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Alt 14.02.2010, 11:11
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Kerstin22 Kerstin22 ist offline
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Registriert seit: 18.07.2006
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Standard AW: Krebs und Studium

Liebe A.,
das ist ja mal ein tolles Bild. Echt süß. Der gute alte Schweinehund. Das mit der Müdigkeit ist ja so eine Sache. Oft finde ich das ganz schwer gesunden Menschen zu erklären. Beziehungsweise das Ausmaß deutlich zu machen. Wahrscheinlich ist es auch so schwierig, weil ich ansonsten so gut "funktioniere". Ich weiß, dass ich da teilweise was gegen tun kann. Aber auch nur in einem bestimmten Rahmen.
Das ist für mich ein ganz schwieriger Bereich, weil ich mich in meinem Leben immer sehr auf meine Leistung konzentriert habe und jetzt macht der Körper nicht mehr mit. Seit meiner letzten Transplantation habe ich das erst so richtig. Ich versuche auch, dass zu akzeptieren und meinem Körper die nötige Ruhe zu geben. Deswegen lege ich mich ja fast täglich nach dem Mittagessen hin und schlafe. Oft mehrere Stunden. Ich bin auch meistens nur vormittags geistig fit. Deswegen versuche ich, wenn es möglich ist, meine Studiensachen nur vormittags zu machen. Ich habe auch Probleme mir dabei selbst nicht faul vorzukommen.
Dieses Müdigkeitssyndrom, genannt Fatique, haben wohl fast alle Stammzelltransplantierten und viele die Chemos usw. bekommen haben. Ich fühle mich da oft von meinen Mitmenschen unverstanden. Sicher liegt es nur an mangelnder Aufklärung.
Liebe A., ich hoffe du verstehst mich nicht falsch. Ich weiß, dass ein voller Alltag sehr anstrengend sein kann und man am liebsten nur ins Bett will. Ich habe gar keinen vollen Alltag und lieg trotzdem im Bett.
Wenn ich erzähle, dass ich nachmittags im Bett liege, bekomme ich oft die Antwort, dass derjenige auch gerne einen Mittagsschlaf machen würde, aber keine Zeit hat, weil er andere Dinge tun muss. Ich fühle mich da oft sehr unverstanden. Mir geht es genau andersherum. Ich habe keine Zeit andere Dinge zu tun, weil ich schlafe. Und ich schlafe echt so tief und fest, dass ich träume und beim Aufwachen nicht weiß, ob es morgens oder abends ist. Ich baue das ja schon in meinem Alltag ein und habe deswegen weniger in der Uni belegt. Meistens schaffe ich es inzwischen auch ohne schlechtes Gewissen nachmittags im Bett zu liegen, während meine Komilitonen vielleicht am Schreibtisch sitzen und arbeiten.
Neulich habe ich mit einem alten Freund telefoniert, der meine Krankengeschichte nur am Rande mitbekommen hat. Der meinte, dass ich nicht so viele Ausreden haben soll und mich überwinden soll und einfach mehr machen. Ich fühlte mich so unverstanden. Und verletzt. Ich würde ihm das so gerne erklären, ohne dass er denkt ich will mich wichtig machen. Aber wenn ich ihm das nicht erkläre, kann er es nicht verstehen. Vor allem wegen der Fatique bin ich ja auch noch als voll erwerbsunfähig eingestuft.
Langam mache ich mir auch Sorgen, ob ich in meinem Leben überhaupt mal wieder voll arbeiten kann. Immerhin liegt meine Transplantation schon 22 Monate zurück. Ich hätte nicht gedacht, dass die Nachwirkungen so lange sind. Nach der autologen Transplantation hatte ich mich relativ schnell wieder erholt.
Mein Problem ist wahrscheinlich nicht mein Schweinehund, sondern eher, dass ich ein bisschen liebevoller mit mir selbst umgehen sollte. Ich erwarte von mir selbst ja trotz Fatique in der Uni Höchstleistungen zu bringen. Ja, wahrscheinlich definiere ich mich noch zu sehr über meine Leistungen. Das hat sich auch durch meine Krebserkrankung nicht geändert. Ich finde aber, dass ich schon etwas liebevoller zu mir geworden bin.
Okay, ich steh jetzt auf (ich liege noch im Bett ) und mache mir ein leckeres Sonntagsfrühstück. Dann werde ich mal weiter meine Wohnung putzen.
Schönen Sonntag!
Kerstin
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Morbus Hodgkin, II B mit Riskofaktor, ED 4/06, 8x BEACOPP eskaliert,Bestrahlung, 1. Rezidiv 03/07, 2x Chemo mit DHAP, 20.06.07 SZT; Bestrahlung;Reha, 2. Rezidiv, 18.04.08 allogene SZT, 03.06.08 komplette Remission , 2019: Knoten im Brustkorb, 03/19 ED Peripherer Nerventumor, 6 Zyklen Chemo, Bestrahlung, OP, bestätigte Remission 01/20

Geändert von Kerstin22 (15.02.2010 um 01:19 Uhr)
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