Thema: Und nun?
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Alt 23.10.2005, 18:23
Blue Blue ist offline
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Standard AW: Und nun?

Hallo Zusammen,

hab jetzt lange gebraucht bis ich alles gelesen habe und ich hab wohl auch schon alle Stimmungslagen hinter mir. Die Tempoindustrie habe ich beim lesen ordentlich angekurbelt - aber das darf ich. Nein, Kinder habe ich nicht, schade. Obwohl ich nicht weiß was besser ist.

Das darf ich jetzt, das ist in den letzten 4 Monaten mein Standardspruch geworden. Ich muß nicht mehr stark sein, obwohl das Herz in der Hose ist, Ich muß keine Erwartungen erfüllen, ich muß auf niemand Rücksicht nehmen. Ich laß mich treiben wie ein Blatt im Wind. Ohne Plan und ohne Ziel. Das darf ich jetzt.

Vor 4 Monaten hat mich Jürgen einfach alleine gelassen, nach knapp 6 Jahren Hirntumor-Diagnose und nach 8 Wochen Pflegezeit Zuhause. Im Rückblick ist es mir schleierhaft, wie ich damals erkannt habe, daß wir uns auf dem letzten Weg befinden und ich Zuhause bleiben muß. Auch weiß ich nicht mehr wie ich das ausgehalten habe in der Pflegezeit, dem ständigen Kampf mit dem Hausarzt und meine Bockigkeit, Jürgen Zuhause zu behalten. Im Rückblick ist mir das alles schleierhaft.

Ja, auch ich mußte mir anhören, daß ich noch jung wäre. Meine Antwort darauf war dann irgendwann, daß das kein Trost ist, im Gegenteil, der Weg ist scheinbar noch so lange. Ja, auch ich habe noch immer große Probleme mit meiner Umwelt. Die Menschen vergessen und wundern sich, daß ich nicht mehr der Mensch wie zuvor bin.

Ja, auch ich möchte in diesem anderen Leben wieder Fuß fassen, aber noch immer brauche ich Zeit. Die Alltäglichkeiten schaffe ich nur mit großer Kraftanstrengung, keiner kann das nach 4 Monaten verstehen. Alltägliche Dinge wie kochen, Wäsche machen oder Wohnung aufräumen machen mich total fertig und schließlich gehe ich wieder arbeiten. Freundliche Hinweise "ich soll mir psychologisch helfen lassen" habe ich auch bekommen. Meine Antwort darauf ist, ich finde das Normal.

3 Wochen nachdem es passiert ist ging ich wieder arbeiten, muß ja von irgendetwas leben. Das war viel zu früh, erst da löste sich der Schockzustand und erst da habe ich wirklich begriffen was passiert ist. Und das Umfeld nimmt keine Rücksicht - egal wie schlecht man aussieht. Die fragen sich alle nur, was hat sie den jetzt schon wieder.

Und dann gibt es gute Tage, da spüre ich Jürgen um mich. Höre ihn über irgendeine verrückte Idee von mir lachen und ihn sagen: Mädchen mach doch. Da wache ich morgens gelöst auf und bin im Gleichgewicht und der Tag wird gut. Dann bin ich froh, daß unsere Liebe gehalten hat und das wir es zusammen geschafft haben. Dann weiß ich, daß ich ihm alles gab, was ich hatte.

Dann kommt das tiefe Tal, das keiner versteht. Die Zweifel ob den alles richtig war. Die Angst, sich im Leben alleine zurecht zu finden und allem gewachsen zu sein. Dann rutscht das Herz wieder in die Hose und ich bedaure mich mal wieder selbst. Und der Weg scheint noch so lange. Dann tut es weh, wenn die Menschen erschrecken wenn sie mich sehen. An solchen Tagen würde ich mir gerne ein Schild anheften: „Mir ist etwas Schlimmes passiert, aber ansteckend bin ich nicht!“

Ja, während der Krankheit hat sich schon ein Großteil der Freunde abgewandt - ich denke das ist Normal. Jetzt sind kaum noch „alte“ Freunde übrig geblieben. So sind die Menschen. Aber dafür habe ich ein paar wenige neue Freunde dazu bekommen, die ohne viel Worte verstehen und einfach nur da sind. Nichts beschwichtigen, nichts verdrehen, einfach alles so stehen lassen.

Meist wirke ich tapfer, weil ich kein Mitleid möchte. Es fällt mir sehr schwer um Hilfe zu bitten, das konnte ich nie. Es fällt mir sehr schwer zu sagen es geht mir echt beschissen. Da fahre ich eher schreiend mit dem Auto durch die Gegend.

Aber: Das darf ich jetzt!

Jürgen wird mir mein Leben lang fehlen, kein Ton wird ihn je ersetzen können. Auch ohne Kinder denke ich oft, schade, daß er das nicht sieht. Schade, daß er mir jetzt keinen Rat geben kann. Schade das er nicht mit dabei ist. Und ich frage mich immer und immer wieder: Was würde er jetzt an meiner Stelle machen. Klar; leben. Aber wie?

Wozu nun der Eintrag? Um hier meine Gedanken zu erzählen und zu wissen auch Ihr habt das Erleben müssen und Ihr wisst, wovon ich rede. Auch um Anstöße für neue Gedanken zu erhalten. Ja, auch um Hilfe zu bekommen, wenn ich mich verrenne und bockig bin.

Danke

Blue
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