Thema: Neu betroffen
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Alt 06.01.2018, 01:16
Rei87 Rei87 ist offline
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Standard AW: Neu betroffen

Hi mal wieder,

vorgestern hatte ich Jubiläum: Am 04.01.2017 – also genau vor einem Jahr – erhielt ich die Diagnose Hodenkrebs. Vielleicht liegt es an der trüben Jahreszeit oder daran dass meine nächste Nachsorge wieder in greifbare Nähe rückt aber, aber das Thema beschäftigt mich derzeit wieder mehr. Nicht unentwegt und nicht annähernd so viel, wie ich es vor 12 Monaten noch erwartet hätte, aber zumindest so sehr, dass es mich nachts derzeit ein bisschen Schlaf kostet und dass ich dachte, ich poste hier mal wieder. Einfach mal um etwas wegzuschreiben. Oder für all jene, die gerade in der Chemo stecken und – wie ich vor 12 Monaten – keinen Ausweg sehen...

Meine letzte Chemogabe liegt nun 9 Monate zurück. Körperlich fühle ich mich nicht weniger fit also vor der Diagnose. Während der Chemo habe ich knapp 10 Kilo verloren, die fast wieder drauf sind. Die Haare sind zurück und von ähnlicher Fülle; lediglich an den Schläfen fehlten zwischendurch hier und da mal ein paar Haare. Die Narbe ist weiterhin nicht hübsch aber gut verheilt. Ich mutmaße jedoch, dass bei der OP ein paar Nerven getroffen wurden – hier und da zieht sich ein leichtes Taubheitsgefühl narbabwärts, von dem ich dachte, dass es verschwinden würde. Das ist jedoch weiterhin so marginal, dass ich es nur merke, wenn ich mit dem Finger langsam drüberfahre.

Grundsätzlich hat sich mein Leben durch den Krebs nicht so massiv geändert, wie ich erwartet hatte. Inzwischen ist – mit allem Abstand – sogar wieder viel Alltag eingekehrt. Ich arbeite seit knapp 6 Monaten wieder Vollzeit und oft gar darüber hinaus – dabei haben Arbeit und Karriere nach der Krankheit eigentlich keinen großen Stellenwert mehr für mich. Aber: Arbeit schafft Ablenkung und Struktur und das hat sicher enorm zu meiner Rehabilitation beigetragen. Die anfängliche „Behutsamkeit“ der Kollegen ist inzwischen auch verflogen. Man gibt mir zumindest das Gefühl, nicht mit Samtpfoten behandelt zu werden. Im Herbst wurde mir sogar eine Beförderung ermöglicht – daran hätte ich bei Wiederantritt nicht einmal im Traum gedacht.

In der Familie und bei Freunden ist es ähnlich. Für Viele ist das Thema nicht mehr präsent und wenn doch, dann kommt es eher selten zur Sprache. Einige (teils lange) Freundschaften sind im letzten Jahr auf der Strecke geblieben. Ich verurteile niemand dafür, dass er/sie mit der Situation nicht umgehend kann/konnte (wer weiß, wie es mir als Außenstehender ergangenen wäre), aber andererseits sehe ich mich – als Betroffener – auch nicht in der Pflicht, Leuten hinterherzurennen, die die Konfrontation mit einem „unbequemem“ Thema wie Krebs scheuen und denen es egal ist, zu wissen, wie es um mich steht. Manchmal finde ich das schade, aber ich kann auch gut damit leben. Im Gegenzug versuche ich, insbesondere mit denen, die stets für mich da waren, noch sehr viel mehr Zeit zu verbringen und ein Stück weit etwas zurückzugeben.

Wenn ich ohnehin etwas „Positives“ aus der Sache gezogen habe, dann ist es sicherlich mehr Wertschätzung für die scheinbaren Selbstverständlichkeiten. Das ist vor allem anderen natürlich die Gesundheit, aber können auch schon Kleinigkeiten wie ein tolles Essen, gute Gesellschaft oder schönes Wetter sein. Ich gönne mir auch spontan einfach mehr… Allerdings: Ich fühle mich oft rastlos und finde nur noch selten die Ruhe für „Langeweile“. Entsprechend viel habe ich in 2017 noch versucht, zu reisen, wenn Zeit war. Derlei Dinge langfristig zu planen fällt mir wegen des Damoklesschwertes „Nachsorge“ allerdings schwer. Urlaub buchen? Wenn dann nur mit Reiserücktrittversicherung – wer weiß schon, was bis dahin ist. Auch ein Beispiel: Vor ein paar Tagen habe ich meine Renteninfo bekommen. Mein Kopf sagt, es ist idiotisch und utopisch, mich damit zu beschäftigen, was in 40 Jahren ist, wenn man im 3-Monats-Rhyhtmus „lebt“.

Außerdem bin ich rührseliger geworden. Während die Familie an den Weihnachtsfeiertagen in die üblichen Zankereien verfiel, war mir eher nach Losheulen, weil ich einfach nur happy war, dass alle munter am Tisch saßen und ich ihrem alljährlichen „Trott“ beiwohnen konnte Die Medien machen es auch nicht besser: Schicksale gehen mir anders als früher arg an die Nieren. Vor 13 Monaten hätte ich einen Bericht über einen 10-Jährigen mit Hirntumor im TV sehen können und zwischendurch vielleicht sogar weg- oder gedanklich gar abgeschaltet, so fern wie das für mich war. Jetzt bleibt mir bei solchen Dingen manchmal die Luft weg, weil mich das so betroffen macht. Auch dahingehend hat sich meine Einstellung geändert. Früher dachte ich immer: „Warum sollte das gerade mir passieren?“, inzwischen denke ich eher: „Warum gerade mir NICHT?“

Aus o.g. Gründen war ich zu anfangs recht viel, in letzter Zeit aber auch weniger oft hier online. Nach der Chemo dachte ich, ich müsse mich weiterhin viel mit allem beschäftigen, um jederzeit auf Eventualitäten vorbereitet zu sein. Mit der Zeit habe ich jedoch erkannt, dass mich das eher selten hat abschalten lassen und ich mein Leben – was/wann auch immer kommen mag – dann doch lieber mit vielen anderen Erinnerungen ausfüllen möchte. Momentan gelte ich zwar als „krebsfrei“, aber da in drei Wochen Laborkontrolle ist, kneift es natürlich dennoch überall. Seltsamerweise werde ich dabei von Nachsorge zu Nachsorge nervöser, so richtig erklären kann ich das nicht. Vielleicht weil beim einem Rückfall die Fallhöhe aus dem Alltag mit der Zeit auch wieder größer wäre. Natürlich hoffe auch ich, den „Lance“ zu machen und noch viele, viele gesunde Jahre vor mir zu haben, aber dass das Thema Krebs für ein und allemal abgehakt ist… so richtig vorstellen kann ich mir das aktuell nicht.

So, laaaaaanges Essay…. Wer bis hierhin durchgehalten hat: Großen Dank an alle, die hier regelmäßig online sind, beraten und Mut zu sprechen. Euer „Job“ hier ist unersetzlich. Alles Gute euch weiterhin!
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