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Alt 02.09.2002, 23:48
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Standard Ein langer Abschied - Teil 2

Liebe Nadine,

heute ist Euer Hochzeitstag und ich kann mir annähernd vorstellen, was dieser Tag für Dich bedeutet und dass er bestimmt besonders schwer für Dich zu ertragen war. Umso mehr freut es mich, dass Du trotzdem geschrieben hast.

Dass mit dem Sinn würde ich Dir gern später erklären, wenn Du per Mail erreichbar bist, denn es trifft nur auf die Geschichte meines Vaters zu und als ich diese heute Revue passieren ließ, wurde mir einiges klar, dessen ich mir vorher so nicht bewußt war. Laß es mich mit wenigen Worten zusammenfassen: Er hatte einfach keine Kraft mehr, sich auch noch dieser Herausforderung stellen zu müssen und hat - das erste und letzte Mal in seinem Leben - kapituliert.

Ich denke, Du hast es selbst schon auf den Punkt gebracht - Du bist nicht mehr dieselbe und die Katze spürt das wohl sehr genau. Schau, mein Kater ist bestimmt nicht zufällig kurz nach dem Tod meines Vaters krank geworden. Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, kaum noch zu Hause, ich habe ihn vernachlässigt und er hat auf diese Weise meine Aufmerksamkeit eingefordert.

Wenn man mit Katzen nichts am Hut hat, mag man es für spinnert halten, aber ich glaube, dass Tiere sehr sensibel auf Veränderungen bei Menschen und in ihrer Umwelt reagieren. Der Hund meines Vaters ist auch nicht mehr derselbe wie zuvor. Er hat, wenn mein Vater im Krankenhaus war und ich bei meiner Mutter übernachtet habe, ganz entgegen seiner Gewohnheit, ständig meine Nähe gesucht und sogar versucht bei mir auf dem Kopfkissen zu schlafen. Das war mir allerdings ein wenig zu viel des Guten und ich habe ihn ans Fußende verbannt. Ich bin kein allzu großer Hundefreund und das war schon ein ziemliches Zugeständnis für mich. Inzwischen stellt dieser kleine Vierbeiner eine Art Verbindungsglied zu meinem Vater für mich dar - er hat ihn so sehr geliebt. Wie könnte ich ihn da nicht mögen?

Nun weiß ich also auch, zumindest habe ich es so verstanden, dass Dein Mann zu Hause gestorben ist. Noch immer treibt es uns um, dass mein Vater so gerne nach Hause zurückkehren wollte und es nicht mehr geschafft hat. Meine Mutter macht sich Vorwürfe, weil sie glaubt, ihm nicht deutlich genug signalisiert zu haben, dass dies auch ihr Wunsch war. Doch uns blieb eigentlich kaum noch Zeit meinem Vater zu vermitteln, dass seiner Rückkehr zum einen sein gesundheitlicher Zustand im Wege stand, aber zu anderen auch, dass das beantragte Pflegeinventar noch nicht eingetroffen war. Obwohl von der Antragstellung bis zur Genehmigung nur wenige Tage vergangen sind, war die Zeit doch zu lang.
Du siehst, auch meine Mutter plagen Vorwürfe und Zweifel, obwohl sie alles, wirklich alles in ihrer Macht stehende getan hat, um meinem Vater beizustehen, ihm zu helfen. Und ich bin so fest davon überzeugt, dass Du - genausowenig wie sie - Euch diese Gedanken machen solltet. Aus jeder Deiner Zeilen spricht, wie sehr Du für Deinen Mann da warst - ich glaube beinahe, auch wenn es fatalistisch klingt, wenn das Schicksal einmal zugeschlagen hat, kann man es nicht abwenden.
"Heilen mit Liebe" - dieses Buch hat meine Mutter zuletzt gelesen und es war erneut Anlaß für Selbstvorwürfe. "Hätte ich dieses Buch doch nur früher entdeckt, vielleicht hätte ich ihm helfen können". Aber sie hat ihm doch geholfen, mehr hätte kein Mensch tun können!

Natürlich hatte die Erkrankung bei meinem Vater auch eine Vorgeschichte - eine sehr lange sogar. Während dieser Zeit haben meine Eltern erfolgreich verdrängt, was ich damals vor drei Jahren schon zum ersten Mal durchlebt habe. Es standen alle Alarmzeichen auf Rot - ich galt als die Panikmacherin, weil ich Druck ausgeübt habe, den Tumormarkern nachzugehen, nicht locker lassen wollte. "Gib endlich Ruhe, Du siehst Gespenster..." - ich wünschte heute auch, ich wäre noch penetranter gewesen, hätte meinen Vater schon vor drei Jahren in die Tumorbiologie geschleppt. Als klar war, dass er krank ist, hat er sich bereitwillig von mir dort anmelden lassen - es war das erste Mal überhaupt, dass mein Vater einem Rat von mir gefolgt ist. Vielleicht hatte ich mehr Einfluß als mir klar war und vielleicht hätte ich diesen schon eher geltend machen können. Ja, auch ich habe diese Momente, in denen ich mir Vorwürfe mache - aber es gehören immer zwei oder in diesem Fall sogar drei Menschen dazu, dass bestimmte Dinge im Keim erstickt werden.

So hast Du auch schon mehrfach erwähnt, dass Dein Mann es nicht wahrhaben wollte, wie krank er war. Es ist unglaublich schwer, sich dem entgegenzustellen, weil es für den anderen Menschen eine Konfrontation mit einer Tatsache bedeutet, der er ausweicht.

Ich hoffe bloß, ich bin jetzt nicht in den Bereich Ratschläge abgerutscht - ich weiß wohl, dass auch Ratschläge Schläge sind.

Aber es war wohl eher ein Rundumschlag, als ein Ratschlag...

Gib Bescheid, wenn Du per Mail erreichbar bist, dann schreibe ich Dir meine Mailadresse noch mal auf.

Ganz liebe Grüße und eine sanfte Umarmung, damit es keine blauen Flecke mehr gibt.

Bettina
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