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Alt 05.09.2010, 20:16
yagosaga yagosaga ist offline
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Hallo zusammen,

zuerst herzlichen Dank für die Nachfrage. Es geht mir inzwischen wesentlich besser. Der "Chemokater" lässt nach, auch körperlich bin ich wieder besser zu Kräften gekommen. Die Polyneuropathie in den Füßen und Fingern stört noch etwas - aber das ist vergleichsweise das geringere Übel.

Heute ist für mich ein besonderer Tag. Heute genau vor einem halben Jahr erfuhr ich, dass ich Krebs habe. Einiges geht mir zur Zeit durch den Kopf:

Wenn ich es objektiv betrachte, wie es sich mit der Krebserkrankung verhält, dann fällt zuerst auf, dass ich die Statistik gegen mich habe. Die medizinischen Prognosen werden ja anhand einer Vielzahl von Fallgeschichten "hochgerechnet". Aber die Frage bleibt ja dennoch unbeantwortet, wo ich mich selbst in diesen Fallgeschichten verorte oder wiederfinde? Bei denen, die kürzer leben oder bei denen, die länger überleben?

Auch besagt eine Statistik noch lange nicht, ob denn der Krebs gegen mich ist. Die Geschichte des Einzelnen geht ja nicht in der Summe aller auf und lässt sich aus der Summe aller auch nicht ableiten. Die Summe aller kann ja letztlich keine Aussage über das Schicksal des Einzelnen machen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten formulieren.

Dass ich Krebs habe, und dazu auch noch eine extrem bösartige Form, das ist nachgewiesen. Dass dieser Krebs bereits zur Erstdiagnose sehr weit fortgeschritten war, auch das ist nachgewiesen. Aber ob ich überlebe und wie lange ich noch lebe, ist damit keineswegs entschieden. Diese Entscheidung ist vermutlich erst dann gefallen, wenn ich als Leiche auf dem Bett liege und der Arzt den Totenschein dazu legt. Bis dahin aber bleibt immer noch Spielraum. Und dieser Spielraum scheint mir ja auch mit einer gewissen Absicht gewährt worden zu sein. Wäre ich in einen tödlichen Verkehrsunfall verwickelt worden, so hätte ich sicher kein Mitspracherecht und Mitbestimmungsrecht mehr gehabt.

Inzwischen habe ich mehr und mehr den Eindruck gewonnen, dass mir? / uns? / einigen? vielen Menschen? auch ein gewisser Spielraum zugestanden wird, so etwas wie ein (begrenztes) Mitspracherecht. Es gibt bei den Phasen einer todbringenden Krankheit, die ein Mensch durchläuft, auch eine "Verhandlungsphase". In dieser macht der Patient Angebote an Gott, für den Fall, dass er geheilt wird. Ich erlebe diese Phase anders. Zum einen spüre ich, dass von dort eine Anziehungskraft ausgeht. Hermann Hesse spricht sogar vom Sog, der von Gott ausgeht (Klein und Wagner).

Aber umgekehrt, ein gutes Argument zu finden, weshalb es zwingend notwendig ist, noch hierzubleiben, kann das Geschick wenden, und der Krankheit einen günstigen Verlauf geben solange ich lebe. Ich will damit nicht sagen, dass wir ein uneingeschränktes Mitspracherecht hätten und dass auf uns gehört wird. Es liegt auch an mir, den Spielraum und das Mitspracherecht zu erspüren, das uns zugestanden wird, und dann im entscheidenden Moment auch unsere Antworten und Argumente parat zu haben.

Vielen Menschen fällt immer wieder auf, dass meine Stimme überhaupt nicht gebrochen oder verzweifelt klingt, wie es bei anderen Menschen mit einer solchen Krankheit öfter der Fall ist. Man sagt mir sogar nach, dass ich euphorisch sei, ich wurde schon gefragt, ob ich Psychopharmaka nehme, was nicht der Fall ist.

Mir war sofort nach der Diagnose klar: Wenn ich noch irgendwo eine kleine Chance haben sollte zu überleben oder das Leben zu verlängern, dann liegt sehr viel auch an meiner Stimmung. Eine Depression oder eine Verzweiflung hätte mich so in die Tiefe gezogen und auch körperlich geschädigt, dass dadurch der Krebs schnell überhand gewonnen hätte, was ja auch medizinisch erwiesen ist. Das wollte ich auf jeden Fall verhindern.

Wenn ich also etwas für eine bessere Prognose oder für einen besseren Therapieverlauf tun konnte, dann indem ich mir immer wieder kleine und große Glücksmomente suche und verschaffe. Sicher war das auch nicht ganz einfach, weil ich mir auch schonungslos den Ernst der Krankheit bewusst gemacht habe, aber wenn schon frohgelaunt und fröhlich, dann wenigstens im Angesicht des Todes (so wie es Martin Luther empfiehlt). In diesem Bereich habe ich wirklich "gekämpft" (auch wenn ich dieses Wort "kämpfen" überhaupt nicht mag), und es hat sich gelohnt (wie mir auch die Ärzte bestätigten). Aber auch heute, wo ich sicher gelassener damit umgehen kann, empfinde ich mich nicht als depressiv, obwohl es immer wieder Tränen gibt. Ich bin nicht unglücklich, und mit zunehmenden Abstand zur letzten Chemo kommt auch ein Stück Zufriedenheit und Lebenslust wieder zurück. Denn ich will der Krankheit nun mal keinen Absolutheitsanspruch über mich zugestehen. Ich habe zwar diese Krankheit, aber sie soll mich nicht haben!

Mit besten Grüßen
Ecki

Geändert von yagosaga (05.09.2010 um 20:20 Uhr) Grund: Wort ergänzt, Rechtschreibung