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Alt 11.11.2003, 00:05
Gast
 
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Standard Hoffnung oder nicht?

Liebe Maria,

gleiches Recht für alle. Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen. Freie Meinung ist freie Meinung. Egal für wen! Hier ist eine kurze Schilderung, damit einige Dinge vielleicht etwas klarer werden. Mein Stiefvater ist mit 62 Jahren verstorben. Sein ganzer Lebenslauf besteht/bestand eigentlich aus unendlichen Krankheiten: Magengeschwüre, Magenbluten, sehr intensive stoffwechselbedingte Depressionen (mit Attacken von 3 x 2 Jahren) und dann der Krebs. Mit einer Diagnose, die eigentlich gar nicht sooo schlecht war (bestimmt besser, als bei manchem von Euch). Inoperables kleinzelliges Bronchialkarzinom ohne Metastasen. 4 Mal Chemo, mit eigentlich relativ geringen Nebenwirkungen (ausser Haarausfall und etwas schlapp und müde). Danach Ruhe von 12 Wochen. Ohne Befund. Alles in Ordnung. In dieser Zeit hatte der Onkologe und der Hausarzt geraten alternative Therapien wie Mistel, Selen, Sauerstoff etc. anzuordnen. Aber: mein Stiefvater meinte, er würde all dies nicht brauchen, da er sowieso keine Chance hätte und am Krebs sterben würde. Kein Arzt, kein Angehöriger konnte ihn überzeugen. Wir wollten in Urlaub fahren. Die Firma schliessen, alles absagen, Urlaub machen. Er wollte nicht. Was hätten wir machen sollen. Er bekam undefinierbare Leibschmerzen. Mit Blähbauch, alles im Leistenbereich verdickt. Seine Antwort: dies ist der Krebs. Er wird mich umbringen. Ich habe nicht Ruhe gegeben, inkl. der Zusammenarbeit mit unserem Hausarzt, der ihn dann endlich ins Krankenhaus eingewiesen hat. Diagnose: Leistenbruch. Aber erst nachdem man unter Narkose alles geöffnet hatte. Und hier setzt dann meine Logik der vorherigen Statements ein: Hätte ICH nicht darauf bestanden, dass er ins Krankenhaus kommt, wäre er mit diesen Schmerzen herumgelaufen (die eine relativ harmlose Ursache hatten) und hätte es auf den Krebs geschoben. Was absolut nicht die Ursache war! Dies z.B. meine ich mit alle Hoffnung aufgeben. Ich weiss, dass es ein dünnes Beispiel ist, aber immerhin! In der Zeit, in der kein Krebs in Sicht war, wollten wir ihn ermuntern, alles mögliche zu machen, damit für ihn (und für uns alle) die Lebensqualität erhalten bleibt. Nichts, was ihn überanstrengt hätte, aber ihm Freude gemacht hätte. Wir haben Urlaub an der See angeboten. Er wollte nicht (obwohl es ihm gut ging und der Krebs scheibar ausser Gefecht gesetzt war). Dann kamen die Depressionen zurück. Leben ohne jegliche Freude. Nur WENN und ABER. Sitzen im Sessel. Der Kopf auf den Knien. Keine Hoffnung. Wir haben meinem Stiefvater und meiner Mutter eine Gästeetage eingerichtet, mit allem Komfort, damit sie nicht 80 km fahren müssen und trotzdem hier alles geniessen können. Die Enkel, Aktivitäten, bei dem Besuch unserer Freunde wurden sie einbezogen und waren wirklich willkommen. Obwohl nun die Situation für alle nicht einfach war. Kaum jemand kann sich vorstellen, wie es ist, mit einem depressiven Menschen zu kommunizieren. D.h. eine Kommunikation ist eigentlich nicht möglich. Als Antwort auf eine Frage kommt ein Nicken oder ein Kopfschütteln. Mehr nicht. Dann kam der Krebs zurück. Mit Metastasen am Stammhirn, an den Rippen und in der Lunge. Mit 28 Bestrahlungen auf den Kopf und weiteren 8 Chemos (wovon er 5 erlebt hat). Dann kommt wieder meine Logik: Gibt es nicht doch einen Zusammenhang zwischen den stoffwechselbedingten Depressionen und dem Krebs? Deshalb der Titel "Hoffnung oder Nicht?". Ich weiss, dass ich sehr weit abgeschweift bin, aber genau das ist es, was mich beschäftigt und weshalb ich die Frage gestellt habe, ob er sich selbst hätte aufraffen "müssen". Zumindest um sein Leben zu verlängern. Er war ein Bilderbuch-Opa. Er wurde zu gesunden Zeiten nicht müde, unseren Kindern 100 Mal das gleiche Bilderbuch vorzulesen. Er hat alles für seine Enkel gemacht. Maria: für den nächsten Satz schäme ich mich, aber ich will ihn trotzdem niederschreiben: mein leiblicher Vater ist mit 69 Jahren kerngesund und macht nichts für seine Enkel. Er spielt nicht mit ihnen, er besucht sie nicht und möchte auch eigentlich nicht, dass wir ihn besuchen. Die Kinder könnten ja seine Wohnung durcheinander bringen. Meine Grossmutter ist 93 Jahre alt, liegt im Bett, siecht dahin und möchte lieber heute als morgen sterben. Und nun kommt der Satz, für den ich mich schäme: alle beiden leben und mein Stiefvater, der zu gesunden Zeiten alles getan und gemacht hat, ist gestorben. Ich schäme mich dafür unendlich, aber es so wie ich es geschrieben habe. Könnte ich tauschen...
Meine Mutter und mein Stiefvater wohnten 80 km entfernt und er hat sich gewünscht, dass er hier beerdigt wird, damit wir alle ihn besuchen kommen. Dieser Wunsch wurde natürlich erfüllt. Meine Mutter wohnt z.Zt. bei uns, verkauft z.Zt. ihre Wohnung und hat ab 1.2. hier in der Nähe eine neue Wohnung gemietet. Ich renne jeden Tag zum Friedhof, besuche "Opa" und rede und rede. Es gibt eigentlich keine Antwort. Und vielleicht doch. Aber dies ist Glaubenssache. Vielleicht schreibe ich morgen den Rest. Für heute bin ich müde und ausgelaugt.
Sollte ich jemanden gelangweilt haben, tut es mir leid. Aber das war für mich heute auch nicht der beste Tag. Die 1 1/2 Jahre stecken mir einfach in den Knochen.

Liebe Grüsse und eine gute Nacht

Bee
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