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Alt 16.03.2003, 22:10
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Standard Geschichten die das Leben schrieb

Anti - Aging
Meine Tochter brachte es auf den Punkt. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen hielt sie mir den Presseartikel vor die Nase. Ich las nur: " Forever fit" und wusste Bescheid. " Hätte ich gewusst", stammelte mein Töchterlein schreckensbleich, " dass gleich nach der Pubertät mein körperlicher Countdown begann! Seit dreizehn Jahren tickt meine Uhr also schon unerbittlich ..." Mit Tränen in den Blauaugen wandte sie den Blick von meinem mitleidigen Antlitz.

Welch grausames Schicksal! Eilends überschlug ich: Gut, wenn sie ihre pubertäre Endphase mit 20 ansetzte, ging die Rechnung auf. Aber was war mit mir? Bei der Berechnung meines Zieleinlaufs brauchte ich ja schon einen Taschenrechner! Von der Pickelzeit, die mich oft genug aus Liebeskummer nicht zum Schlafen kommen ließ bis heute, in der man diesen Zustand des Aus-Dem-Bett-Türmens gnadenlos als 'senile Bettflucht' bezeichnet, summierten sich inzwischen fast 51 Jahre. Jahre, in denen ich ohne Rücksicht auf meine eng geschnürten Chromosomen-Päckchen Ackerbau und Viehzucht betrieb; ein Haus mit baute und ganz nebenbei die Weltbevölkerung um zwei Prachtexemplare bereicherte. Wenn ich nun bedachte, dass die Endstücke meiner Genpäckchen, die Telomere, immer um ein Stückchen kürzer werden, wenn sich normale Zellen teilen, möchte ich lieber gar nicht wissen, wie viel Rest-Millimeterchen davon noch vorhanden sind.

Vielleicht hätte ich schon viel früher mal an Anti-Aging mit Resurfacing, Peeling, Facelifting, Eigenfettbehandlung, Plastikbusen und derartige Errungenschaften der modernen Menschheit denken sollen. Aber schließlich sprach man zu meiner Zeit vor einem halben Jahrhundert schlichtweg von 'Altern' und 'in Ehren ergrauen'. Von 'Anti-Aging' keine Spur. Wer wird denn heute noch altern oder gar ergrauen? Nach einer Eigenhaarumverteilung fährt Frau sich höchstens spielerisch durch den selbstverständlich immer noch vollen Schopf und wispert dazu geheimnisvoll: "... zugegeben, da war Wissenschaft mit im Spiel...."

Und nun? Torschusspanik? Entfaltungsseminar auf der Runzelranch? Hinein ins Fitness-Studio? Gut, da lässt sich mit der Hantel eine Weile der Gedanke ans Altwerden wegstemmen. Beim Jogging betäuben gnädige Endorphine das Hirn und lassen Frustration nicht aufkommen. Vitaminstöße sollen dem Verfall Einhalt gebieten; Implantate die Fassade aufrechterhalten. Aber reicht das alles, um in jugendlicher Vitalität 100 zu werden?

Ideal wäre natürlich ein Bad im Jungbrunnen oder der Atem einer Jungfrau, der angeblich das Alter weghauchen soll. Aber wo findet man heutzutage noch einen Brunnen? Und Jungfrauen fliegen auch nicht mehr so tief wie früher.

Ich ergebe mich in mein Schicksal. Früh im Bad flüstere ich weiterhin meinem Spiegelbild zu: " Ich kenne dich zwar nicht, aber ich putze dir trotzdem die Zähne ..." Den Tatsachen muss man nun mal in die getrübte Linse sehen. Es sei denn, ich kratze meine Ersparnisse zusammen, lasse Urlaub Urlaub sein und lege mich unters Messer wegen meiner Krähenfüße. Oder sollte ich einen Kredit aufnehmen zur Nasenkorrektur? Den Erbonkel anpumpen, um die schmal gewordenen Lippen und hängenden Mundwinkel aufspritzen zu lassen? Oder einen Banküberfall inszenieren, um die Zornesfalten auszubügeln?

Ich zog mich in meine hinterste Seelen-Abstellkammer zurück. Irgendwas musste geschehen.
Radfahren, Spazieren gehen und Internetsurfen reichen eben nun mal nicht mehr aus, um den Aging-Prozess aufzuhalten. Andererseits habe ich nicht vor, wie Cher mit starrem Maskengesicht einher zu tappen noch dem Lauf-Oberguru mit dem eingefrästen Grinsen im Bronzegesicht Konkurrenz zu machen. Außerdem: Was nützt die schönste Verpackung, wenn die Innereien so alt sind wie's in meinem Ausweis steht?

Die Klausur brachte es: Ein ausdrucksstarkes Gesicht, in dem das Leben seine Spuren hinterließ, finde ich schön und interessant. Jedenfalls seit gestern. Außerdem hat mein Fitness-Test ergeben, dass ich voraussichtlich vierundneunzig Jahre alt werde. Bleiben mir noch einige Jahre. Das dürfte reichen, um in Ehren zu ergrauen.
Ich arbeite daran.

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