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Alt 30.05.2010, 11:59
yagosaga yagosaga ist offline
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Zitat:
Zitat von Blume68 Beitrag anzeigen
Ich bewundere, wie du mit deiner Krankheit umgehst, ... Du vermittelst eine gelebte Ruhe und Zuversicht, die in mir als Leser deiner Zeilen nachwirken.
Liebe Blume,

meine Situation ist sicher nicht mit vielen anderen Krebspatienten zu vergleichen. Ich bringe durch Beruf und Lebenserfahrungen viele Voraussetzungen mit, die mir den Umgang mit der Krankheit erleichtern.

Gut zwei Jahrzehnte habe ich kontinuierlich Krebspatienten selbst begleitet und besucht, ich kenne also die unterschiedlichsten Krankheitsverläufe. Ich habe Menschen erlebt, die bitter verzweifelten. Ich habe aber auch Menschen erlebt, die inmitten unheilbarer Krankheit mit solch einer Fröhlichkeit und Wärme gesegnet waren, dass es auf mich einfach nur ansteckend wirkte. Ich habe Patienten erlebt, die an dem Erbrechen und der Übelkeit der Chemo verzweifelten, als es noch nicht diese guten Medikamente wie heute gab. Ich habe Menschen erlebt, die entgegen allen Prognosen noch ganz viel Lebenszeit gewannen und Menschen, die innerhalb von Tagen nach der Diagnose verstarben. Und jeder Mensch ging mir persönlich nahe. Von daher weiß ich einfach schon sehr viel über die Möglichkeiten der Krankheitsverarbeitung, und weiß auch, was förderlich und hinderlich ist.

Ein zweites: zu meinem Beruf gehört es auch, Trauergespräche zu führen und zu bestatten. Durchschnittlich einmal die Woche, und das auch 20 Jahre lang. Mit jedem Sterbefall musste ich mich also immer auch mit meinem eigenen Tod auseinandersetzen. Und es war alles mit dabei, vom Kind, das gleich nach der Geburt starb, dem dreijährigen Jungen, der an Neuroblastom starb, von Selbstmördern und Mordopfern, und die 102jährige Frau, also nichts, was es nicht gibt. Ich musste wiederholt auch mit der Kripo Todesnachrichten überbringen: ein Familienvater von zwei Kindern im Kindergartenalter, der bei einer Motoradtour im Harz starb u.v.a. mehr. Und selbst bei den härtesten und dramatischsten Fällen musste ich die Nerven behalten, mir durfte die Stimme nicht versagen, ich musste den Angehörigen Halt und Zuversicht geben, auch wenn mir selbst dabei so schlecht und so mulmig war, dass ich am liebsten fortgelaufen wäre - ich musste standhaft bleiben und mich ohne einen Deut der Verunsicherung in der Gewalt haben. Diese Form der Selbstbeherrschung kommt mir jetzt auch zugute. Und es ist für mich wirklich leichter, mit mir selber umzugehen als andere leiden zu sehen!

Ein Drittes: wer so lange und so dicht am Tod arbeitet und das als Pfarrer tut, der setzt sich auch ganz anders mit dem Glauben an Gott auseinander. Ich habe immer nach Gewissheit gesucht und geforscht, und ich habe Zweifel zugelassen, ausgehalten und auch be- und verarbeitet. Das übrigens oft auch in Publikationen oder Hörfunksendungen. Ich muss mich jetzt in der Krebserkrankung nicht neu mit diesen Fragen auseinandersetzen, sondern konnte sofort an bisher Erlebtes und Erfahrenes anknüpfen.

Es gibt sicher noch einiges anderes zu erwähnen, was mir im Moment nicht einfällt. Aber es ging mir jetzt nur darum, deutlich zu machen, dass ich mich einfach auch in einer besonderen, fast möchte ich sagen privilegierten Situation befinde, die etwas mit meiner Herkunft und Lebenserfahrung zu tun hat. Ich merke inzwischen nach drei Monaten auch, dass bei uns weitgehend "Krebsalltag" eingezogen ist. Das Leben hat sich "normalisiert". Ich lebe zwar mit der Perspektive, dass es schnell zu Ende gehen kann - der Kleinzeller ist sehr heimtückisch. Aber ich lasse mich davon nicht beherrschen. Und wenn meine Konfirmanden auf der Straße mich fragen, wie es mir geht, dann sage ich auch mal: "Ich lasse mir von dem Lungenkrebs doch nicht den Tag verderben", und wenn ich sie dabei anstrahle, dann kommen auch danach tolle Gespräche zustande.

Viele Grüße
Ecki

P.S. auch die Familie und die drei Kinder sind nicht zu vergessen, der 16jährige und die 15jährige, beide in der Pubertät und immer mit einem flotten herben Spruch auf den Lippen, und die fast vierjährige in der Trotzphase, die kein Entkommen aus der Normalität zulassen

Geändert von yagosaga (30.05.2010 um 12:17 Uhr) Grund: P.S. angefügt