Thema: Wahrheit
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Alt 07.10.2014, 13:49
Charl0tte Charl0tte ist offline
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Standard AW: Wahrheit

Liebe Maxi,

was für ein einladendes Zuhause Du Dir eingerichtet hast! Glückwunsch! Die vielen Besucherinnen in so kurzer Zeit zeigen, welchen Nerv Du mit Deinem Thread-Titel getroffen hast. Bin fast ein wenig stolz, dass unsere Diskussionen bei mir in der 'Nabelmetastase...' Dich dazu ein klein wenig mit angeregt haben. Ich möchte es Dir gleich mit einem 'Gegenbesuch' danken!

Ihr Lieben,
wenn ich Eure Geschichten hier so in der Zusammenschau und Dichte lese, wird mir bewusst, dass ich in mancher Hinsicht Glück gehabt habe. Die zwei Frauenärzte, die mich in Vertretung meiner eigentlichen Frauenärztin diagnostiziert haben, waren sehr einfühlsam, gründlich und sind trotzdem sehr nah an der Wahrheit geblieben. Sie haben aber keinerlei Prognose in den Mund genommen. Ich bin auch nur deshalb zum Gyn, weil mein Hausarzt mich dorthin geschickt hat. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass ich was Gynäkologisches haben könnte. Ich dachte, ich hätte was am Darm und es gehe nur um das Ausschließen einer gynäkologischen Problematik. Ich war deshalb eigentlich relativ ruhig während der Untersuchung. Die Ärzte, Vater und Sohn in gemeinsamer Praxis, haben mich dann noch einmal gemeinsam untersucht, nachdem der Sohn die erste Untersuchung beendet hatte und mich noch einmal ins Wartezimmer schickte, da er eben gerne noch gemeinsam drauf schauen möchte, es aber noch etwas dauere, da noch eine andere Untersuchung laufe, die er abwarten müsse. Ich durfte mich in einem separatem Raum hinlegen, da ich das Sitzen nicht aushielt durch den Druck im Bauch. Gefühlt dauerte es ewig, obwohl es wahrscheinlich nur eine halbe Stunde war und ich ja auch kurzfristig in den Terminkalender gequetscht worden war. Endlich wurde ich zum Gespräch gebeten. Allein saß ich also vor diesen beiden mir unbekannten Ärzten, die zuvor in mein intimstes Inneres geschaut hatten. Und sprachen ihr 'Urteil'. "Frau XXX, wir haben keine guten Nachrichten für Sie." sagten Sie wörtlich. Was danach kam erinnere ich nur bruchstückhaft. Es fielen die Worte: "Eierstockkrebs" "fortgeschritten" "OP" "Krankenhaus" "nicht mehr lange damit warten" und es wurde mir ein Zettel mit der Telefonnummer der Frauenklinik am örtlichen Krankenhaus gegeben. Hätte ich doch nur das Angebot meines Mannes angenommen, mich zu begleiten! Aber ich war ja so überzeugt davon, dass gynäkologisch alles in Ordnung ist. Ich hatte doch zwei Wochen zuvor ganz normal meine Tage gehabt. Keine Zwischenblutung, keine Schmerzen, die ich meinen "lady parts" hätte zuordnen können. Völlig perplex erwiderte ich: "Aber ich kann mir doch nicht vom Erstbesten den Bauch aufschneiden lassen! Und sollte ich da nicht noch eine zweite Meinung einholen?" Darauf meine zwei Gegenüber: "Die Operateurin am hiesigen Krankenhaus ist nicht die Erstbeste, sie ist spezialisiert auf diese OPs und sehr erfahren. Und eine zweite Meinung haben Sie bereits, deshalb haben wir noch einmal zu zweit untersucht." Da saß ich und wechselte innerlich zwischen mir bis dato unbekannten Aggregatzuständen hin und her. Wie gelähmt nahm ich den Zettel, ich glaube, ich bedankte mich sogar !!!??? bei den Ärzten, holte mein neues Auto, das ich gerade zwei Tage zuvor geliefert bekommen hatte (würde es länger leben als ich?), und fuhr heim. Es war Freitag der 12. Okt. 2012.

Am Wochenende schrieb ich meine Patientenverfügung, am Montag ging ich ins Krankenhaus, am Donnerstag wurde ich operiert. Die drei Krankenhaustage vor der OP waren ... ich finde gar keine Worte. In der Rückschau und im Vergleich mit den Rücksichtslosigkeiten, die Ihr ertragen musstet, wurde ich einfühlend und aufmerksam behandelt. Einzig die urologische Abteilung des Krankenhaus findet keine Gnade in meinen Augen. Sie legten die Harnleiterschienen und vergeigten die Sedierung, reagierten weder auf meine Ansagen, dass ich noch wach sei, noch auf meine nachfolgenden Schreie. Hinterher stellte sich heraus, dass meine Hand ganz nass war, die Sedierungsmedikatmente also nie den Weg in mich hinein gefunden hatten, sondern über meine Hand gelaufen waren. Irgend ein Schräubchen war nicht zugedreht. Und natürlich wurde alles abgestritten. Mein Mann stellte die Urologen zusammen mit der Chefärztin zur Rede, warum er mich als heulendes Elend im Bett vorfände, und wie es sein könnte, dass ich in solch einer Verfassung sei, wenn doch angeglich alles nach Plan und unauffällig verlaufen sei. Ich erinnere genau, dass ich vor dem Eingriff gefragt wurde, ob ich müde würde, was ich vehement verneinte mit den Worten: "Nein, ich bin hellwach!" Als ich dann schrie, weil es höllisch brannte, hieß es von hinter den blauen Vorhängen her: "Aber die hat doch null-fünfundzwanzig bekommen!?" Wenn ich sediert gewesen wäre, hätte ich wohl kaum diese genaue Erinnerung an den genauen (!!!) Wortlaut! In den drei Wochen meines Krankenhausaufenthaltes hat dann auch jeder diese Geschichte serviert bekommen. Bei der Entfernung der Schienen, auf die ich vor Entlassung aus dem KH bestand, war dann mein Mann anwesend, und zwar IM Behandlungsraum. Diesmal würde ich einen Zeugen haben, wenn sie was verbockten! Es wurde dann vom Chef-Urologen gemacht, der ÄUßERST zuvorkommend zu mir war. So nett war noch kein Arzt zu mir. Mann, das habe ich genossen. Ich glaube, der hatte Angst, dass ich seine unfähigen Untertanen verklage. Er hat sich sogar entschuldigt, dass sich der Termin bis mittags verschoben hatte, weil er eben noch ein paar Notfälle am Vormittag gehabt hätte. Während dieser Wartezeit, die ich unerträglich fand, hatte eine psychoonkologische Fachschwester das Pech, an mein Bett zu treten und säuselte mich mit salbungsvollen Worten an: "Wie geht es Ihnen den mit Ihrem Krebs?" Hier müssen mal ein paar Tündel'sche ( huhu Tündel!) Smileys ran: : . Ich glaube, die Dame musste ihren Beruf wechseln. Ich antwortete: "Mein SchXXX Krebs ist mir im moment XXXeißegal, wenn sie mir helfen wolle, solle sie den Urologen Beine machen, damit ich endlich meine Schienen loswürde ... . und ansonsten könne sie sich ja mal meinen Bauch anschauen, so würde ich mich nämlich fühlen: aufgeschlitzt!"

Die OP-vorbereitenden Gespräche absolvierte ich im Dauerschockzustand. Ich verhandelte um meine Organe! Ich widersprach der Entnahme der Lymphknoten. Mein Gehirn hatte in dieser Extremsituation irgendwoher die Information hervorgekramt, dass bei Krebs-OPs die Entnahme nicht unumstritten sei. Zu meiner Verwunderung, nickte die Chefärztin meinen Wunsch sofort ab, ja das sei so und wenn ich das nicht wolle, würden sie belassen. Es wurde verhandelt über eine Entnahme der Milz, um einen künstlichen Darmausgang (obwohl die Darmspiegelung nichts auffälliges ergeben hatte). Zum Glück blieben Milz und Darm in mir drin.

Um zurück zur Wahrheit zu kommen. Diese negierte ich bis zum Schluss. Bis zur Besprechung der Pathologie negierte ich die Tatsache, dass ich Krebs hatte. Hier fiel dann auch die gefürchtete Prognose: "Ohne die anschließende Chemo hätte ich vielleicht noch ein halbes Jahr". Seltsamerweise kann ich mich an diesen Satz gar nicht erinnern. Aber mein Mann. Er wich zum Glück nicht von meiner Seite in dieser Zeit. Ich lehnte die Chemo trotz dieser Todesdrohung ab. Was ich da in den Unterlagen zur AGO Ovar 17 las, überzeugte mich einfach nicht. Es musste einen Weg ohne geben. Wie lange er sein wird, weiß niemand. Aber das gilt für alle Wege - mit oder ohne. In wenigen Tagen habe ich mein Zweijähriges Jubiläum. Ist noch nicht lange, aber immerhin vier mal so lang, wie 'prognostiziert' von der Chefärztin. Und es geht mir bis auf ein paar auffällige Blutwerte, Verdauungsprobleme und eine lädierte Psyche ganz ordentlich.

Mein Fazit: Die Wahrheit ist irgendwo da draußen. Jeder (Arzt, Patientin, Umfeld ...) hat seine eigene Wahrheit. Und jede(r) hat ein Recht auf seine/ihre eigene Wahrheit. Vor allem wir Patientinnen mit so einer furchterregenden Krankheit, die uns so an unser Innerstes geht.

Liebe Maxi, danke, dass ich mir hier so ausbreiten durfte.

Liebe Grüße an Euch alle
Charl0tte

Geändert von Charl0tte (07.10.2014 um 14:03 Uhr)
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