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Alt 25.12.2005, 09:43
Barbara 64 Barbara 64 ist offline
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Standard AW: Zwei Jahre danach...

Nach sechs Stunden Tiefschlaf bin ich aufgewacht. Du hast geschlafen, Con war schon wach und hatte Kaffee gekocht. Deine Nacht war unruhig, aber Du hattest allem Anschein nach keine Schmerzen.
Dein Arzt kam vorbei, Du bist von der Klingel aufgewacht. Infusion wolltest Du keine mehr, überhaut wolltest Du gar nichts, nur in Ruhe und alleine gelassen werden. Wir konnten Dich kaum verstehen, und Du warst ziemlich unzufrieden, doch irgendwann hatten wir es verstanden... Alle raus, Du woltest allein sein und sterben...
Später hat dann das Sanitätshaus angerufen, sie wollten das Pflegebett liefern. Ich habe abgelehnt. Für die Stunden, die Dir noch blieben, wollte ich Dir keinen Transport durch das enge Treppenhaus zumuten. Con hat mich bestärkt in der Entscheidung, Du warst kaum mehr ansprechbar, und Du würdest Dein Wohnzimmer nicht mehr genießen können, also wofür eine solche Tortur, zumal wir zumindest einen fremden Helfer gebraucht hätten...
Als Deine Pflegerin kam, haben wir nur das Nötigste zusammen gemacht, Du hast protestiert und wieder mit Nachdruck verlangt, alleine zu sein...

Die Sonne schien Dir ins Gesicht, ich wollte den Rolladen soweit herunterlassen, daß Du nicht geblendet wurdest... Du hast sofort protestiert, Laden oben und Fenster auf und alle raus...
Ach, Mama... Abwechselnd haben wir oben vor der Schlafzimmertür gewacht, falls Du rufen würdest, wollte ich sofort bei Dir sein... Ein paar Mal habe ich versucht, zu Dir rein zugehen, einmal hast Du mich auch für einige Zeit an Deinem Bett behalten. Du warst sehr unruhig, alles schien Dich zu stören. Wir haben dann die Betteinlage gegen ein Handtuch ausgewechselt, und Du wurdest ein bißchen ruhiger. Dein Körper hat gekämpft, Atemzug um Atemzug, mittags warst Du überhaupt nicht mehr ansprechbar, doch immer noch wurdest Du sehr unruhig, wenn einer von uns zu Dir ins Zimmer kam und blieb.
Ich war sehr unsicher, wollte Dich nicht alleine lassen, wer will schon alleine sterben. Doch Con meinte, wir sollten das respektieren, es sei schwer für Dich, zu gehen, und offenbar war es noch schwerer, wenn Du nicht allein warst.
Ich saß auf Deiner Terrasse, rauchte, und ständig ging das Telefon... Ich bin immer wieder mal zu Dir gegangen und habe Dir die Grüße ausgerichtet, ich glaube, daß Du das auch irgendwie mitbekommen hast, zumindest warst Du ruhig in der Zeit. Nur bleiben durfte ich nicht.

Irgendwann zwischen zwei und drei hatt ich plötzlich ein merkwürdiges Gefühl... Ich 'mußte' an Dein Stammbuch denken. Ich wußte, es lag im Haustresor, wo der Schlüssel lag, wußte ich nicht.
Meine Beine trugen mich in den Keller, meine Hände lösten die Wandverkleidung vor dem Tresor, und dann faßte ich in eine Nische (in der ich im Leben nicht gesucht hätte), zog den Tresorschlüssel heraus und holte Dein Stammbuch aus dem Tresor... Und dann war ich wieder 'Ich'...
Ich ging nach oben, um Con zu erzählen, was geschehen war... Con war auf dem Weg zu mir... Du warst extrem unruhig gewesen für einige Minuten und jetzt plötzlich ganz ruhig, kein Kampf mehr... Ich habe mich gefragt, ob Du meinetwegen kämpfen mußtest, solange, bis ich endlich die Ruhe hatte, mich ein wenig zu entspannen... Ich hatte etwas derartiges vorher noch nie erlebt. Rein theoretisch hätte ich es wohl für möglich gehalten... vielleicht...
Ich war nun auch viel ruhiger. Ich bin zu Dir gegangen und habe Dir gesagt, daß ich das Stammbuch nun habe. Du hast das ja längst gewußt... Und ich habe Dir gesagt, daß ansonsten soweit alles klar ist, ich würde mich zurechtfinden. Dann habe ich mich eine Weile neben Dein Bett auf den Fußboden gesetzt und Deine Hand gehalten. Du hast sie mir nicht lange gelassen und wurdest dann auch wieder unruhiger, bis ich wieder rausgegangen bin.

Kurz nach halb fünf habe ich plötzlich daran gedacht, daß der Rolladen bei Dir um fünf automatisch runtergehen würde. Also bin ich nach oben gekommen, um den Stecker rauszuziehen...
Und so warst Du dann bei Deinen letzten Atemzügen doch nicht allein. Im ersten Moment war ich nicht sicher, hatte nur das Gefühl, Du gehst... Nach diesem langen Kampf war es ein ruhiges Ende.
Bis neun haben wir Dich zu hause behalten, die ganze Zeit war der Rolladen oben und das Fenster gekippt, ich habe Dir eine Kerze ans Bett gestellt, und wir waren immer wieder bei Dir.

Ich bin zu den zwei Nachbarn gegangen, die auch in den letzten Wochen noch menschlich waren und den Kontakt zu Dir gehalten haben. Die meisten haben – wenn überhaupt – mich immer wieder gefragt, wie es Dir geht, nicht angerufen, nicht vorbeigekommen, ‘sowas‘ schaut man sich wohl nicht an... Ich fand das sehr traurig für Dich, Du auch, ich weiß... Die Nachbarn, denen Du über Jahre so viel Einfluß auf Dein Leben eingeräumt hattest, deren Meinung Dich immer wieder verletzen konnte... Sie alle waren viel zu feige, um sich bei Dir zu zeigen, es war aber gewiß besser so, es hat völlig gereicht, daß ich mir die dummen Sprüche angehört habe.

Als der Bestatter kam, ist Con mit nach oben gegangen, ich wollte nicht dabeisein, wenn sie Dich die Treppe hinunter aus Deinem Haus tragen. Ich habe dem Wagen noch nachgeschaut, Mama, innerlich für einen Moment völlig leer. Es war vorbei.


Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wolken schweben
Und schwinden wir.
Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissen's nicht) in Mitte
Der Ewigkeit...

Johann Gottfried Herder
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