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Alt 31.08.2015, 21:33
Lino1981 Lino1981 ist offline
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Standard Here we go... Seminom links

Liebe Mitstreiter,

wie viele andere in diesem Forum habe ich in den letzten Monaten zunächst passiv mitgelesen und war für die Fülle an Informationen und für eure Erfahrungen sehr dankbar. Nun möchte ich meine eigene story beitragen:

Ich (34 Jahre) war beruflich im Ausland als ich Anfang Juni ein leichtes Ziehen im linken Hoden spürte. Beim Abtasten stellte ich eine Vergrösserung und leichte Verhärtung fest. Nach dem obligatorischen googlen kamen eine Nebenhodenentzündung oder Hodenkrebs in Frage. Letzteres hielt ich damals aufgrund fehlender Risikofaktoren für praktisch unmöglich (naiv, naiv ).

Also habe ich direkt nach meiner Rückkehr nach Deutschland einen Termin beim Urologen gemacht. Beinahe hatte ich den Termin am Morgen des Arztbesuchs abgesagt, da zeitlich mal wieder alles nicht passte, meine bessere Hälfte hat mich Gott sei dank aber davon abgehalten. Also auf zum Urologen, der ein Ultraschall machte. Erste Diagnose: Keine Nebenhodenentzündung, sondern eine „Raumforderung“, die möglichst bald „freigelegt“ werden müsse. Verdacht auf Hodenkrebs und Tumormarkerbestimmung. Ich dachte, ich sei im falschen Film. Aus der Praxis raus, habe ich mir erst mal einen kurzfristigen Termin bei einem anderen Urologen geben lassen, um eine zweite Meinung zu hören. Aber, wie zu erwarten, kam der andere Arzt zu genau der gleichen Diagnose. Also am Folgetag (nun mit meiner Frau und mangels Babysitter mit meinem Sohn) in die lokale Uniklinik – Blutbild, MRT Abdomen und CT Thorax wurden noch am selben Tag gemacht. Am nächsten Tag (Freitag) dann zum erneuten Gespräch mit dem Chefarzt der Urologie, der sich sehr viel Zeit nahm: LDH war leicht erhöht, PLAP stark erhöht, das CT Thorax unauffällig. Das MRT Abdomen zeigte einen akzentuierten Lymphknoten im hinteren Bauchraum (paraaortal). Er tippte vom Ultraschallbild auf ein Seminom. Die Info, dass die Heilungschancen bei Hodenkrebs im Anfangsstadium bei nahezu 100% liegen (er meinte, ca. 2% Verlust aufgrund mangelnder Patientencompliance) hat mich etwas ruhiger schlafen lassen. Nach langem hin und her hatte ich mich gegen ein Implantat entschieden. Es kommt wohl nur extrem selten zu Komplikationen mit dem Silikonteil, man kann es aber nicht gänzlich ausschliessen. War eine reine Bauchentscheidung, die sicher jeder für sich treffen muss. Ich hatte mir das Teil mal zeigen lassen und es fühlte sich für mich irgendwie unnatürlich an. Nachträglich schade ist, dass pre-operativ kein Testosteronwert bestimmt wurde. Hat man in der Klinik wohl verschlafen. Die OP (meine bisher erste) sollte am kommenden Montag stattfinden, so dass ich bereits das Vorgespräch mit dem Anesthetist führte. Und dann kam das beschissendste Wochenende meines Lebens!!!

Nach einer extrem kurzen Nacht kam ich am Montag um 09:00 Uhr in der Klinik an. Die OP war auf 12:00 angesetzt. Um 10:00 habe ich mir nach Rücksprache mit dem Anesthesist ein Beruhigungsmittel geben lassen und um 11:30 gab es die sogenannte „Scheiss-egal-tablette“, so dass ich halbwegs entspannt in den OP-Saal rollte. Ich erinnere mich noch an die Frage, wo ich das letzte mal im Urlaub war. Als ich zur Antwort ansetzen wollte, war ich schon weg.

Die OP verlief erstaunlich gut. Ich hatte keinerlei Probleme mit Schmerzen, Schwellung oder Entzündung. Ich konnte schon am selben Tag ein wenig auf der Station spazieren gehen und am folgenden Morgen duschen (mit Klebefolie). Bei mir wurde allerdings kein TIN-test vorgenommen, da dies, so wurde mir später erklärt, nur bei Patienten unter 30 Jahren oder mit einem Hodenvolumen unter einem bestimmten Grenzwert (ich glaube 12 ml) indiziert sei. Seltsam ist trotzdem, dass der Urologe im Vorgespräch die Option nicht angesprochen hat. Immerhin liegt das Risiko eines zukünfigen Tumors in der Gegenseite bei 4% (über alle Altersgruppen hinweg) und ein doppelter TIN-test hat eine Treffsicherheit von 99%, wobei wohl „nur“ 70% der TIN-positiven einen Tumor entwickeln. Vermutlich hätte ich es trotzdem nicht gemacht, da die einzige Behandlungsoption einer positiven TIN die Bestrahlung des Hodens ist, und diese die Leidigzellen langfristig schädigen kann, die für die Testosteronproduktion zuständig sind. Naja, jetzt ist es eh zu spät, nochmal werde ich mich bestimmt nicht so schnell unters Messer legen.

Nach einer Woche Wartezeit auf die Histologie kam dann die Diagnose:
Reines Seminom links, pT1, L0, V0, Pn0, cNx, cM0; max.Größe 4.1cm, keine Infiltration Nebenhoden/Rete testis/Tunica vaginalis testis, keine Invasion der Blut- oder Lymphgefässe, kein Durchbruch Tunica albuginea.

Die vor der OP erhöhten Tumormarker sind nach der OP in den Normbereich gefallen: hPLAP (von 751 auf 56, Nichtraucher) LDH (von 239 auf 178). CT Thorax war wie schon gesagt unauffällig. Beim MRT Abdomen der auffällige Lymphknoten mit 13 bis 14mm Größe retroperitoneal paraaortal links, sonst unauffällig.

Mein Fall ging daraufhin ins Tumor-board, die mir zur Verlaufskontrolle des auffälligen Lymphknotens bzgl. Größenprogredienz in acht Wochen rieten. Prof. Sch. (danke an dieses Forum für den Kontakt!!) bestätigte per email die Empfehlung mit der Ergänzung: Bei Progress Kombination aus limitierter Radiatio und ein Zyklus Carboplatin AUC7, bei Konstanz W&S.
Da ich nun erstmal zum Warten verdammt war, verabschiedete ich mich in den dreiwöchigen Sommerurlaub, der mir sichtlich half, das ganze zu verdauen. Die Diagnose Krebs zu erhalten ist sicherlich für jeden erst mal ein riesen Schock. Wenn man aber bedenkt, dass Hodenkrebs einer der ganz wenigen Krebserkrankungen ist, die in fast allen Fällen heilbar sind, ist es wirklich ein riesen Glück im Unglück. Das Leben läuft halt nicht immer reibungslos, das gehört dazu.

Nach 8 Wochen ging es dann zum Re-staging: Wieder MRT Abdomen, CT Thorax, Ultraschall und Blut. Um es kurz zu machen, der Lymphknoten war kleiner geworden, war also nicht befallen. Somit änderte sich mein Status von cNx auf cN0. Da es sich um ein sogenanntes Re-staging handelte, wollte der Urologe noch nicht auf Röntgen Thorax umstellen. Ab der nächsten Nachsorge dann aber nur noch Röntgen Thorax, keine CTs mehr, um die Strahlenbelastung zu reduzieren. Mir wurde beim MRT im Gegensatz zum ersten mal kein Kontrastmittel verabreicht. Auf Nachfrage beim Chefarzt der Radiologie wurde mir gesagt, dass die neue Generation von MRT-Geräten ohne Kontrastmittel eine Genauigkeit von 99% im Vergleich zur Diagnostik mit Kontrastmittel erzielen würden und dies völlig ausreiche, um Veränderungen gegenüber den Erstbildern mit KM zu beurteilen. Die verwendeten Gadolinium-haltigen Kontrastmittel seien in die Kritik geraten, da eine Studie aus Japan darauf hindeutet, dass bei sehr häufiger (!) Verwendung Schäden am Gehirn entstehen können. Ich hatte dazu in diesem Forum bisher noch nichts gelesen und wollte die Info mit euch teilen.
PLAP war im Blut nun nicht mehr nachweisbar. LDH war im Vergleich zum letzten mal erhöht, aber Entwarnung seitens des Urologen und des Onkologen, da LDH wohl sehr unspezifisch ist und nur in Kombination mit anderen Markern und bildgebenden Verfahren sinnvoll beurteilt werden kann. PLAP ist beim Seminom wohl der wichtigste Marker und man kann mit seiner Hilfe Rezidive häufig bereits vor den bildgebenden Verfahren erkennen, wenn der Initialtumor markerpositiv war (mehr Details: Weissbach – The value of tumor markers in testicular seminomas). Der andere Hoden war weiterhin unauffällig. Kein Sternenhimmelphänomen, das ich im betroffenen Hoden hatte.

Wie soviele von euch stand ich nun vor der Entscheidung Surveillance oder adjuvante Chemo mit Carboplatin. Ich tendierte anfangs zur Chemo und die Entscheidung wurde von meinem Urologen unterstützt. Beim Gespräch mit dem Onkologen kamen mir allerdings Zweifel. Er sah meine aktuelle Rezidivwahrscheinlichkeit bei ca. 10%, nach der Chemo bei ca. 3%. Das deckt sich relativ mit der spanischen Studie zur Rezidivierung unter Beachtung von Risikofaktoren (auch wenn diese nicht final validiert sind): http://www.andrologen.info/uros/news...?artikel_a.php
Die Wahrscheinlichkeit für ein künftigen Tumor in der Gegenseite würde nicht reduziert werden, sondern die Entstehung lediglich zeitlich verzögert (steht auch hier: http://annonc.oxfordjournals.org/content/19/3/443.full). Insofern würde ich mein kumuliertes Risiko (Rezidiv + kontralateralem Tumor) durch die Chemo von 14% auf 7% senken. Dem stehen die Neben- und potentiellen Langzeitwirkungen des Carboplatin entgegen. Laut dem Onkologen sei die bisherige Beobachtungszeit der Studien zur Langzeittoxität der AUC7-Dosierung zu kurz um gesicherte Erkenntnisse zu haben. Erfahrungen mit dem Medikament bei der Behandlung von anderen Krebsarten deuten auf ein geringfügig erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen hin. Darüber hinaus würde er nichts erwarten, hat aber keine gesicherten Erkenntnisse. Der Mann war mir übrigens reichlich unsympatisch. Ich war ziemlich verunsichert und schrieb nochmal Prof. Sch. an (mit allen Befunden), der prompt am selben Abend antwortete: „Aktuell etwa 2,9 nach 1xCarbo etwa 2,4 Prozent Rezidivrisiko (4 cm ist gerade die Risikogrenze)- würde ich nicht empfehlen. Im Rezidivfall 1xCarbo plus limitierte Radiatio. Ihr MS“

Die 2.9% überraschten mich sehr. Vielleicht weil die erste Kontrolle schon gelaufen war oder der PLAP so stark abgefallen ist. Ich weiss es nicht. Vielleicht habt Ihr eine Idee? Entscheidend war für mich aber die Aussage, dass ein Rezidiv mit der Kombitherapie aus limitierter Radiatio und Carboplatin behandelt werden kann (nur in den grossen Zentren), wenn es in den Lymphknoten entdeckt wird und das werden bei engmaschigen MRT-Kontrollen über 95%. Rezidiviert man aber nach adjuvanter Carboplatin, ist PEB zwingend. Vor diesem Hintergrund entschied ich mich für Surveillance.
Wer mehr Info zur Kombitherapie möchte, findet die u.a. hier: http://jco.ascopubs.org/content/27/12/2101.full.pdf oder nach SAKK-Studie Seminom googeln.
Die guidelines der European Association of Urology zum Hodenkrebs haben mir häufig beim Verständnis geholfen und ich konnte mich auf Arztgespräche ein bisschen vorbereiten. Die Unterlage findet ihr hier: http://uroweb.org/wp-content/uploads...er-2015-v2.pdf

Nun bin ich also Wait-and-See-ler und werde mir alle 3 Monate die Fingernägel abkauen
Positiver Nebeneffekt der ganzen Geschichte ist, dass ich nun stärker auf die work-life-balance (abgedroschenes Wort, ich weiss) achte und die schönen Dinge des Lebens irgendwie mehr schätze und geniesse. Ich mache mehr Sport und verbringe mehr Zeit mit meiner Familie. Nach der OP, als es unklar war, ob es eine Chemo gibt oder nicht, haben meine Frau und ich die Verhütung abgesetzt (mit OK des Urologen), da man ja bis zu drei Jahre nach der Chemo warten soll. Nun ist sie schwanger – das freut mich ungemein

Noch eine Frage an Euch: Habe im verbleibenden Hoden manchmal ein ganz leichtes Ziehen. Der Urologe meint, es käme vom Wachstum, da der eine jetzt ja die Funktion beider Hoden übernehmen muss. War das bei euch auch so?

Last but not least: Ein großes Dankeschön an all die aktiven user in diesem Forum! Ich weiss nicht, was ich ohne euch gemacht hätte. Schickt mir gerne PMs oder postet, falls ihr Fragen zu meinen Erfahrungen habt.

Euer Lino

Geändert von gitti2002 (14.12.2015 um 23:27 Uhr)
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