Thema: Liebste Mum
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Alt 22.04.2005, 15:17
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Standard Liebste Mum

Liebste Mum,

nach ganz langer Zeit habe ich mir neulich Mut zugesprochen und habe Dich auf dem Friedhof besucht. In den letzten Monaten konnte ich das gut vermeiden, aber ich bin es Dir schuldig, Dich wenigstens ab und zu zu besuchen. Für mich bist Du mehr in meinem Herzen, als dort an diesem kalten Ort. Es war diesmal ein sehr sehr trauriger Moment, als ich mit Deinem Enkel vor Deinem Grab stand. Ich hatte das Gefühl, als ob mich die volle Realität getroffen hat. Sonst wenn ich auf den Friedhof gehe, da kann ich meine Gedanken ausschalten, aber diesesmal ging das nicht. Vielleicht liegt es auch daran, das Dein Enkelkind 1 Jahr alt geworden ist und ich es furchtbar und sehr traurig finde, das Du das nicht miterleben durftest.
Irgendwie verändert sich alles. Nichts wird mehr so sein wie es mal war. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob unsere kleine Familie auseinander bricht. Alles ist so neu. In letzter Zeit habe ich wieder öfter geweint. Bald kann Dein Enkelkind sprechen und dann wird er fragen wo seine Oma ist. Was soll ich ihm dann sagen? Und wie soll ich es ihm sagen? Wie soll ich ihm das alles erklären? Ich habe da ziehmlich viel Angst vor. Ich glaube ich habe Angst davor, weil ich dann wieder mal selber mit der Realität konfrontiert werde. Man versucht ja so gut wie es geht alles zu verdrängen, aber es gibt so viele Momente in letzter Zeit, wo ich wieder intensiv über alles nachdenken muss.
Wir werden auch bald umziehen, ein kleines Stückchen von hier weg. Vielleicht ist das mal ganz gut. Sicher, ich werde nichts vergessen und es fällt mir auf einer Seite auch ganz schwer hier wegzuziehen, aber auf der anderen Seite müssen wir auch in die Zukunft schauen. Und Dein Enkelsohn ist da sehr wichtig, ich will nicht, das er nur mit alten Leuten aufwächst, er soll auch was von seiner Kindheit haben. Ausserdem habe ich hier sowieso keine Hilfe. Ich kann keinen fragen, wie ich was machen soll. Ich kann auch nirgends den Kleinen mal für eine Stunde abgeben. Bei Dir hätte ich mir sicher sein können, das Du Dich gut um Deinen Enkel kümmerst. Jetzt bleibt mir nur mein Bruder, der den Kleinen mal nehmen kann. Ansonsten vertraue ich da niemandem. Es ist oft verdammt schwer sich durchs Leben zu boxen. Oft bin ich auf mich alleine gestellt. Du fehlst mir in jeglicher Hinsicht.
Dein Mann verändert euer ganzes Haus. Ich fühle mich dort überhaupt nicht mehr zu Hause. Das ist sehr traurig. Mein Elternhaus gibt es nicht mehr so, wie ich es in Erinnerung habe. Das ist nicht gerade leicht. Und schon gar nicht, das Dein Mann sich eine neue Frau gesucht hat. Ich kann mich noch an einen Satz erinnern, den er nach Deinem Tode immer und immer wieder wiederholt hat: "Ihr werdet drüber hinwegkommen, aber ich werde immer daran zu knabbern haben." Was für ein bescheuerter Satz. Eine Frau kann man zum Teil ersetzen, eine Mutter nie. Wenn Papa wüsste, wie traurig ich bin und wie sehr ich Dich vermisse, dann würde er sich nicht so verhalten.

Selbst jetzt nach 1,5 Jahren habe ich immer noch das Gefühl, als ob alles ein schlechter Traum ist. Oft habe ich das Gefühl, als ob ich in der Erinnerung festhänge. Ich kann es immer noch nicht glauben, das Du nie mehr zurückkommst. Den einzigen Trost den ich habe, ist, das Du mich abholst, wenn ich mal sterbe. Auf diesen Tag freue ich mich jetzt schon. Dich endlich wieder bei mir zu haben, dieses Gefühl vermisse ich total.

In unendlicher Liebe
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