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Alt 28.01.2009, 00:11
gaertner gaertner ist offline
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Standard AW: An alle Hinterbliebene...

Hallöchen,

@AnetteP

mein Sohn war 14, als die Krankheit begann und ein alterslos gereifter junger Mann, als er mit 16 Lebensjahren diese Welt verlassen mußte. Sein Abiturjahrgang hat mich zur Abschlusssfeier eingeladen. Die Entscheidung, dorthin zu gehen, ist nicht in 5 Minuten gefallen. Mit Nachdruck kam der Wunsch, von Lehrern, von Schülern. Seine Abi-Gabe habe ich erhalten, das Jahrgangsbuch.
aus der Rede der Schulleiterin:
Zwei Ereignisse, scheinen mir, haben eure Schulzeit aber besonders geprägt:
das eine war der Krebstod eures Mitschülers r.t., der uns allen auf so nachdrückliche Weise die Endlichkeit unseres Seins und die Unverfügbarkeit unseres Lebens vor Augen geführt hat.Viele von Euch hatten ihn während seiner Zeit im Krankenhaus begleitet und mit ihm bis zuletzt gehofft.Dass der Kampf gegen die Krankheit dann verloren ging, war ein schwerer Schlag. Gemeinsam ist es euch aber gelungen, wieder mutig vorwärts zu schauen, indem ihr euch gegenseitig gestützt und getröstet habt.
(das zweite war eine Fahrt nach Chile, wobei alle Schüler das Geld aufbrachten , obwohl nur die Spanischklasse gefahren ist)
Ich glaube, das es das ist, was euch als Jahrgang auszeichnet: euch war immer das Miteinander wichtig und habt ein Auge für die Sorgen und Nöte eurer Mitschüler gehabt.

Warum schreib ich das ?

Es war für die Entwicklung dieser sozialen Kompetenz nicht nötig, alle Einzelheiten des Todes zu wissen. Und es ist nicht heuchlerisch, das Andenken des Mitschülers in Würde zu bewahren. Allerdings waren die Schüler alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen. Bei dir lese ich heraus, das viel die Eltern der Freunde entschieden haben. Von den ca. 50 Schülern waren nicht alle Freunde und von diesen hätten allerdings auch nur nicht mal eine Handvoll engster Freunde die letzten Stunden mit meinem Sohn verbringen dürfen. Es ist nicht ein Problem der Jugend, der Kinder, es sind die Älteren, die umdenken müßten.
Kinder nehmen "das Grauen" garnicht so wahr, wichtig ist das Blitzen der Augen, das Lächeln aus dem sabbernden Mund.
Leider weiß ich auch nicht den Weg, dies zu ändern. Sicher bin ich mir allerdings, wenn man den Älteren in aller Ausführlichkeit den "Schmutz" des Sterbens vor Augen führt, werden sie Ihre Kinder noch mehr vor diesem "Greul" schützen wollen.
Zu diesem Thma finde ich auch folgenden Text von Gerhard Schöne sehr passend:

Als mein gelber Wellensittich aus dem Fenster flog,
hackte eine Schar von Spatzen auf ihn ein,
denn er sang wohl etwas anders und war nicht so grau wie sie,
und das passt in Spatzenhirne nicht hinein.

Auf dem Weihnachtsmarkt läuft einer,
nach dem sich die Leute umdrehn.
Etwas Grünes hat er sich ins Haar geschmiert.
Er trägt eine Glitzerhose und am linken Ohr Geschmeide,
etwas Wangenrouge, der Hals ist tätowiert.
Träge Menschen werden munter. Stille Bürger sind entrüstet.
Dreckparolen wirft man, wo er geht und steht.
Einer sagt: Das ist der Abschaum! So was müsste man erschießen!
Wenn das mein Sohn wär, ich wüsste, was ich tät.
Jemand sagt: Der ist entlaufen! Jemand sagt: Hau ab! Zieh Leine!
Irgendwo ruft einer halblaut: Schwules Schwein!
Jemand spuckt ihm vor die Füße. Jemand wirft nach ihm ein Brötchen.
Ein Besoffener packt ihn und schlägt auf ihn ein.

Als mein gelber Wellensittich aus dem Fenster flog,
hackte eine Schar von Spatzen auf ihn ein,
denn er sang wohl etwas anders und war nicht so grau wie sie,
und das passt in Spatzenhirne nicht hinein.

Fünf Soldaten auf der Bude. Vier sind sofort dicke Freunde.
Nur der fünfte ist ne Pfeife, das steht fest.
Alle waren schon blau, nur er nicht, hat von Fußball keine Ahnung.
Abends liegt er mit `nem Buch in seinem Nest.
Täglich schreibt die Pfeife Briefe und kriegt Post aus anderen Ländern.
Alle prahlen mit ihren Weibern, nur er schweigt.
Er versaut die ganze Stimmung, wenn sie Witze sich erzählen.
Es wird Zeit, dass man ihm mal die Meinung geigt!
Sonntagnacht, die Pfeife schläft schon. Unsre Vier sind stockbesoffen.
In der Dunkelheit zerren sie ihn aus dem Bett.
Eine Flasche braunen Fusel flößen sie ihm ein und lachen.
Uns sein Buch wird eingeschmiert mit Stiefelfett.

Als mein gelber Wellensittich aus dem Fenster flog,
hackte eine Schar von Spatzen auf ihn ein,
denn er sang wohl etwas anders und war nicht so grau wie sie,
und das passt in Spatzenhirne nicht hinein.

Im Lokal ist Kinderfasching. An der Tür gibt es Getuschel.
Eine Mutter bringt ihr Sternentalerkind.
Das ist geistig schwer behindert, kann nicht sprechen, nur so brummeln,
doch es strahlt, weil hier so viele Kinder sind.
Und die Mutter setzt sich mit ihm an die lange Kaffeetafel,
kleiner Sternentaler klatscht zu der Musik.
Keiner schenkt ihnen Kakao ein, niemand setzt sich in die Nähe,
ab und zu nur trifft sie ein verstohlener Blick.
Als die Kinder tanzen, schwingt sie auch ihr Kind herum im Kreise.
Manche tanzen weiter, andere bleiben stehn.
Jemand sagt: Das ist geschmacklos. Mann, wir sind doch keine Anstalt.
Unsre Kinder sollen so etwas nicht sehn.

Als mein gelber Wellensittich aus dem Fenster flog,
hackte eine Schar von Spatzen auf ihn ein,
denn er sang wohl etwas anders und war nicht so grau wie sie,
und das passt in Spatzenhirne nicht hinein.

Damit bin ich hoffentlich nicht zu weit vom eigentlichen Thema abgekommen.
Dein Kind ist für mich auf jeden Fall der Wellensittich und ich kenne ein paar, die diesen Wellensittich auf seinem Flug begleitet hätten. Es wäre schön , wenn es mehr dieser Menschen gäbe, Hospizarbeit ist ein Weg dazu, keine Frage. Ein Umbruch in dieser Richtung in der Gesellschaft ist sicherlich nicht durch "Schocktherapie" zu erreichen, vielleicht hat der eine oder andere Mitleser ja eine Idee, wie diese Thematik weiter in die Öffentlichkeit gebracht werden kann.

@geske

ja, dies wäre eine Alternative,
"Wäre es nicht möglich, in einem Tread mal auf sich alleingestellt betreuende Angehörige, ohne moralische Bedenken, ihren Kummer von der Seele schreiben zu lassen. - Es muss ja nicht jeder mitlesen."
Dies ging mir als erster Gedanke durch den Kopf, als ich zum erstenmal hier mitgelesen habe.

Genauso kann ich dann im Kellerchen ein Briefchen schreiben war der Zweite.

Ich habe mich jetzt auch "festgebissen" in diesem Thema und meine anfängliche völlig ablehnende Haltung durch die Beiträge hier teilweise revidiert. Warum sollte jemand das Sterben eines Angehörigen so detailgenau öffentlich darstellen? Ich fange an zu verstehen, was den einen bewegt es zu schreiben und den anderen, der diese Information haben möchte.

Dies auf die reine Information zu reduzieren bedeutet eigentlich einen rein medizinisch, sterilen , kalten Thread zu eröffnen, ohne Raum für die Menschlichkeit, die dieses Forum an sich auszeichnet. Ist dies dein Ziel ?



LG Gaertner
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Geändert von gaertner (28.01.2009 um 00:41 Uhr) Grund: Ergänzung
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