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  #46  
Alt 25.12.2007, 14:01
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struwwelpeter struwwelpeter ist offline
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Unser Weihnachtsengel




Das blonde Mädchen stand am Fenster und beobachtete, wie die sternförmigen Schneeflocken in lustigen Kreisen langsam der Erde zu fielen. Plötzlich drehte sie sich um. Das Zimmer war groß und hell erleuchtet. Die Mutter stand auf einem Stuhl, um dem Weihnachtsbaum den letzten goldenen Stern aufzusetzen. Alles sah auf den ersten Blick so fröhlich aus. Aber in den Augen der beiden Menschen spiegelte sich der Schmerz.
"Mama, wann kommt denn der Vati heim?" Die Frau drehte sich um und langsam kullerte ihr eine Träne über die Wange. "Kimm her meine Kleine. Der Papi kommt nie mehr wieder!"
Bei diesen schrecklichen Worten bahnten sich die Tränen auch bei der Kleinen ihren Weg. Sie konnte noch nicht verstehen, was damals geschehen war. Sie war ja noch so klein. Daddy war auf dem Nachhauseweg, als es passierte. Er konnte dem Lastwagen auf der vereisten Strasse nicht mehr ausweichen. Das Auto donnerte mit voller Geschwindigkeit in einen Baum. Der Mann starb noch am Unfallort.
Mutter und Tochter hielten sich fest in den Armen und erst jetzt bemerkte das Mädchen den wunderschönen Engel, der sich inzwischen auf einem Stuhl niedergelassen hatte. Er trug ein goldenes Gewand und über seinem Kopf schwebte ein gleichfarbener Ring.
"Mutti, schau doch, der Engel ist vom Himmel extra zu uns gekommen!" Sie erhob sich und eilte durch das Zimmer. Die Mutter konnte nur den leeren Stuhl sehen. "Komm zurück, Schatz. Engel setzen sich nicht auf Stühle.." - "Aber sieh doch, da sitzt einer!" Der Engel lächelte. Er wusste nur zu gut, dass Erwachsene durch ihn hindurch sahen.
Er bückte sich zu dem blonden Geschöpf. "Du musst jetzt stark sein und gut auf deine Mami aufpassen. Dem Papi geht es gut, er ist bei mir im Himmel. Jeden Tag begleitet er euch zwei überall hin. Ihr dürft nie vergessen, dass er immer da ist, egal zu welcher Zeit und wo ihr gerade seid."
Ein Staunen breitete sich auf dem Gesicht des Kindes aus. Der Engel streckte seine Hand aus und berührte sanft ihre Wange. Dann erhob er sich und flatterte zum offenen Fenster hinaus.
Die Mutter sah ihre Tochter da stehen, wie sie das Fenster anstarrte. Die Traurigkeit breitete sich noch mehr in ihrem Herzen aus. Aber da drehte sich die Kleine um, und ein Lächeln stand in ihren Augen. "Mami, der Engel hat mir verraten, dass Vati bei uns ist. Das ist doch schön!" Die Frau nahm ihr Kind in die Arme und drückte es ganz fest an sich. Sie beobachtete die Schneeflocken, die auch jetzt noch langsam vom Himmel der Erde zu fielen.


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  #47  
Alt 25.12.2007, 21:32
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Hans Christian Andersen

Ein Blatt vom Himmel

Hoch oben in der dünnen, klaren Luft flog ein Engel


mit einer Blume aus dem Himmelsgarten,
und während er einen Kuß auf die Blume drückte,
löste sich ein winzig kleines Blättchen ab und fiel auf die nasse Erde mitten im Walde;
da faßte es sogleich Wurzeln
und begann mitten zwischen den anderen Kräutern zu sprossen.
"Das ist ja ein merkwürdiger Steckling"
sagten sie, und keiner wollte sich zu ihm bekennen,
weder die Distel noch die Brennessel.
"Es wird wohl eine Art Gartengewächs sein"
sagten sie und lachten spöttisch.
Und sie machten sich über das vermeintliche Gartengewächs lustig;
aber es wuchs und wuchs
wie keines von den anderen und trieb Zweige weit umher in langen Ranken.
"Wo willst Du hin?" sagten die hohen Disteln,
die Stacheln an jedem Blatte hatten.
"Du gehst zu weit. Deine Zweige haben keine Stütze ud keinen Halt mehr.
Wir können
doch nicht stehen und Dich tragen!"
Der Winter kam und Schnee legte sich über die Pflanze;
aber durch sie bekam die Schneedecke einen Glanz,
als würde er von unten her mit Sonnenlicht durchströmt.
Im Frühjahr stand dort ein blühendes Gewächs, herrlich wie kein anderes im Walde.
Da kam ein Professor der Botanik daher, der ein Zeugnis bei sich hatte,
daß er war, was er war. Er besah sich die Pflanze, biß sogar in ihre Blätter,
aber sie stand nicht in seiner Pflanzenkunde; es war ihm nicht möglich zu entdecken,
zu welcher Gattung sie gehörte.
"Das ist eine Spielart!" sagte er.
"Ich kenne sie nicht, sie ist nicht in das System aufgenommen!"
"Nicht in das System aufgenommen" sagten die Disteln und Nesseln.
Die großen Bäume ringsum
hörten, was gesagt wurde,
und auch sie sahen, daß es
kein Baum von ihrer Art war; aber sie sagten nichts,
weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, das ist immer das Sicherste,
wenn man dumm ist.
Da kam ein armes, unschuldiges Mädchen durch den Wald;
ihr Herz war rein und ihr Verstand groß durch ihren Glauben
; ihr ganzes Erbteil in dieser Welt
bestand in einer alten Bibel, aber aus deren Blättern sprach Gottes Stimme zu ihr:
Wollen die Menschen Dir übel, so denke an die Geschichte von Joseph:
"Sie dachten Übles in ihren Herzen, aber Gott wendete es zum Besten"
Leidest Du Unrecht, wirst Du verkannt und verhöhnt,
so denke an den Reinsten und Besten,
den sie verspotteten und an das Kreuz nagelten, wo er noch betete:
"Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"
Sie blieb vor der wunderbaren Pflanze stehen,
deren grüne Blätter so süß und erquickend dufteten
und deren Blüten im hellen Sonnenschein wie ein wahres Farbenfeuerwerk leuchteten.
Und aus jeder sang und klang es,
als verberge sie aller Melodien tiefen Born, der in Jahrtausenden nicht erschöpft wird.
Mit frommer Andacht schaute sie auf all die Gottesherrlichkeit;
sie bog einen der Zweige nieder, um die Blüte recht anschauen zu können
und ihren Duft einzuatmen.
Und ihr wurde licht und wohl ums Herz.
Gern hätte sie eine Blüte mitgenommen, aber sie hatte nicht das Herz,
sie zu brechen, sie würde nur zu schnell bei ihr welken,
und so nahm sie nur ein
einziges von den grünen Blättern, trug es heim,
legte es in ihre Bibel und dort lag es frisch, immer frisch und unverwelklich.
Zwischen den Blättern der Bibel lag es verborgen,
und mit der Bibel wurde es unter des jungen Mädchens Haupt gebettet,
als sie einige Wochen später im Sarge lag,
des Todes heiligen Ernst auf dem frommen Antlitz,
als ob es sich in ihrer irdischen Hülle noch abpräge,
daß sie nun vor ihrem Gotte stand.
Aber draußen im Walde blühte die wunderbare Pflanze,
die bald wie ein Baum anzusehen war.
Und alle Zugvögel kamen und neigten sich vor ihr,
besonders die Schwalben und Störche.
"Das ist ein ausländisches Gehabe!" sagten die Distel und die Klette,
"so würden wir uns doch hier niemals aufführen!"
Und die schwarzen Waldschnecken spuckten auf den Baum.
Da kam der Schweinehirt, er raufte Disteln und Ranken aus,
um sie zu Asche zu verbrennen;
den ganzen wunderbaren Baum, mit allen Wurzeln riß er aus
und stopfte ihn mit in das Bund.
"Er muß auch Nutzen bringen!" sagte er, und dann war es getan.
Aber nach Jahr und Tag litt des Landes König an der tiefsten Schwermut;
er war fleißig und arbeitssam, aber es half nichts.
Es wurden ihm tiefsinnige Schriften vorgelesen
und auch die allerleichtesten, aber auch das half nichts.
Da kam Botschaft von einem der weisesten Männer der Welt.
Man hatte sich an ihn gewendet und er ließ sie wissen,
daß sich ein sicheres Mittel finde, den Leidenden zu kräftigen und zu heilen.
"In des Königs eigenem Reiche wächst im Walde
eine Pflanze himmlischen Ursprungs,
so und so sieht sie aus, man kann sich gar nicht irren!"
und dann folgte eine Zeichnung der Pflanze, sie war leicht zu erkennen.
"Sie grünt Sommer und Winter;
man nehme jeden Abend ein frisches Blatt davon und lege es auf des Königs Stirn,
da wird es seine Gedanken licht machen,
und ein schöner Traum wird ihn für den kommenden Tag stärken!"
Das war nun deutlich genug, und alle Doktoren und der Professor der Botanik
gingen in den Wald hinaus.
Ja, aber wo war die Pflanze?
"Ich habe sie wohl mit in mein Bund gepackt!" sagte der Schweinehirt.
"Sie ist schon längst zu Asche geworden, aber ich verstand es nicht besser!"
"Er verstand es nicht besser!" sagten alle. "Unwissenheit!
Unwissenheit wie groß bist Du."
Und diese Worte konnte sich der Schweinehirt zu Herzen nehmen,
denn ihm und keinem anderen galten sie.
Nicht ein Blatt war zu finden, das einzige lag in dem Sarge der Toten,
und das wußte niemand.
Der König selbst kam in seiner Schwermut in den Wald zu dem Orte hinaus.
"Hier hat der Baum gestanden" sagte er, "das ist ein heiliger Ort"
Und die Erde wurde mit einem goldenen Gitter eingefaßt
und eine Schildwache stand Tag und Nacht davor. Der Professor der Botanik schrieb eine Abhandlung über die himmlische Pflanze,
und dafür wurde er vergoldet. Das war ihm ein großes Vergnügen.
Und die Vergoldung kleidete ihn und seine Familie,
und das ist das Erfreulichste an der ganzen Geschichte,
denn die Pflanze war fort und der König war schwermütig und betrübt
"aber das war er auch schon vorher!" sagte die Schildwache.


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  #48  
Alt 30.11.2008, 23:23
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Gibt es ein Christkind?

Die 8jährige Virginia O´Hanlon aus New York wollte es ganz genau wissen. Darum schrieb sie an die Tageszeitung "Sun" einen Brief:

Ich bin 8 Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt kein Christkind. Papa sagt, was in der Sun steht, ist immer wahr, Bitte sagen Sie mir, gibt es ein Chrsitkind?
Virginia O´Hanlon

Die Sache war dem Chefredaktuer Francis P. Church so wichtig, dass er selber antwortete - auf der Titelseite der "Sun":

Virginia,

Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem keinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein; ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.
Ja, Virginia, es gibt ein Christkind. Es gibt es so gewiss wie Liebe und Großherzigkeit und Treue.Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es kein Christkind gäbe! Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie - gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müsste verlöschen.
Es gibt ein Christkind. Sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben. Gewiss, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, das Christkind zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme das Christkind zu Gesicht - was würde das beweisen? Kein Mensch sieht es einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens unsichtbar. Die Elfen, zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie.
All die Wunder zu denken - geschweige denn sie zu sehen; das vermag nicht der Klügste auf der Welt. Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden; nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, den nicht einmal alle Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann wird die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein; »Ist das denn auch wahr?« kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger.
Das Christkind lebt, und ewig wird es leben. Sogar in zehnmal zehntausend Jahren wird es da sein; um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen. Frohe Weihnacht, Virginia.

Dein Francis P. Church


P. S.: Der Briefwechsel zwischen Virginia O‘Hanlon und Francis P. Church stammt aus dem Jahr 1897. Er wurde über ein halbes Jahrhundert - bis zur Einstellung der »Sun« 1950 - alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite der Zeitung abgedruckt.



Euch Allen eine schöne Adventszeit

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  #49  
Alt 09.12.2008, 16:45
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Liebe Userinnen und User,

heute hatte ich überraschend Besuch. Dieser kam nicht wie gewöhnlich zur Haustür, sondern versuchte es über den Balkon. Trotzdem hab ich ihn willkommen geheißen. Er muss jetzt so lange hier bleiben, bis die Rentiere mit dem Schlitten wieder vorbeikommen. Nachdem es jetzt aber keinen Schnee bei uns gibt, bleibt mir der Gast wohl eine Weile erhalten.

Liebe weihnachtliche Grüße

Renate
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Ab einem gewissen Alter erzählt unser Gesicht unser Leben!
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  #50  
Alt 11.12.2008, 23:37
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struwwelpeter struwwelpeter ist offline
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Das Paket des lieben Gottes

Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter an den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wenn man von der Kälte erzählt. Manche Leute, vor allem eine gewisse Sorte Männer, die etwas gegen Sentimentalität hat, haben eine starke Aversion gegen Weihnachten. Aber zumindest ein Weihnachten in meinem Leben ist bei mir wirklich in bester Erinnerung. Das war der Weihnachtsabend 1908 in Chicago.

Ich war anfangs November nach Chicago gekommen, und man sagte mir sofort, als ich mich nach der allgemeinen Lage erkundigte, es würde der härteste Winter werden, den diese ohnehin genügend unangenehme Stadt zustande bringen könnte. Als ich fragte, wie es mit den Chancen für einen Kesselschmied stünde, sagte man mir, Kesselschmiede hätten keine Chance, und als ich eine halbwegs mögliche Schlafstelle suchte, war alles zu teuer für mich. Und das erfuhren in diesem Winter 1908 viele in Chicago, aus allen Berufen.

Und der Wind wehte scheußlich vom Michigan-See herüber durch den ganzen Dezember, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Reihe großer Fleischpackereien ihren Betrieb und waren eine ganze Flut von Arbeitslosen auf die kalten Straßen.

Wir trabten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtviertel und suchten verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzigen, mit erschöpften Leuten angefüllten Lokale im Schlachthofviertel unterkommen konnten. Dort hatten wir es wenigstens warm und konnten ruhig sitzen. Und wir saßen, so lange es irgend ging, mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kameraden mit einbegriffen waren, all das, was es an Hoffnung für uns noch gab.

Dort saßen wir auch am Weihnachtsabend dieses Jahres, und das Lokal war noch überfüllter als gewöhnlich und der Whisky noch wässeriger und das Publikum noch verzweifelter. Es ist einleuchtend, daß weder das Publikum noch der Wirt in Feststimmung geraten, wenn das ganze Problem der Gäste darin besteht, mit einem Glas eine ganze Nacht auszureichen, und das ganze Problem des Wirtes, diejenigen hinauszubringen, die leere Gläser vor sich stehen hatten.

Aber gegen zehn Uhr kamen zwei, drei Burschen herein, die, der Teufel mochte wissen woher, ein paar Dollars in der Tasche hatten, und die luden, weil es doch eben Weihnachten war und Sentimentalität in der Luft lag, das ganze Publikum ein, ein paar Extragläser zu leeren. fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerkennen.

Alle holten sich frischen Whisky (und paßten nun ungeheuer genau darauf auf, daß ganz korrekt eingeschenkt wurde), die Tische wurden zusammengerückt, und ein verfroren aussehendes Mädchen wurde gebeten, einen Cakewalk zu tanzen, wobei sämtliche Festteilnehmer mit den Händen den Takt klatschten. Aber was soll ich sagen, der Teufel mochte seine schwarze Hand im Spiel haben, es kam keine reche Stimmung auf. Ja, geradezu von Anfang an nahm die Veranstaltung einen direkt bösartigen Charakter an. ich denke, es war der Zwang, sich beschenken lassen zu müssen, der alle so aufreizte. Die Spender dieser Weihnachtsstimmung wurden nicht mit freundlichen Augen betrachtet. Schon nach den ersten Gläsern des gestifteten Whiskys wurde der Plan gefaßt, eine regelrechte Weihnachtsbescherung, sozusagen ein Unternehmen größeren Stils, vorzunehmen.

Da ein Überfluß an Geschenkartikeln nicht vorhanden war, wollte man sich weniger an direkt wertvolle und mehr an solche Geschenke halten, die für die zu Beschenkenden passend waren und vielleicht sogar einen tieferen Sinn ergaben. So schenkten wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wo es davon gerade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinein ausreichte. Dem Kellner schenkten wir eine alte, erbrochene Konservenbüchse, damit er wenigstens ein anständiges Servicestück hätte, und einem zum Lokal gehörigen Mädchen ein schartiges Taschenmesser, damit es wenigstens die Schicht Puder vom vergangenen Jahr abkratzen könnte.

Alle diese Geschenke wurden von den Anwesenden, vielleicht nur die Beschenkten ausgenommen, mit herausforderndem Beifall bedacht. Und dann kam der Hauptspaß. Es war nämlich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, daß er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben mußte. Aber jeder Mensch konnte sehen, daß er in keiner guten Haut steckte. Für diesen Mann dachten wir uns etwas ganz Besonderes aus. Aus einem alten Adreßbuch rissen wir mit Erlaubnis des Wirtes drei Seiten aus, auf denen lauter Polizeiwachen standen, schlugen sie sorgfältig in eine Zeitung und überreichten das Paket unserm Mann.

Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm zögernd das Paket in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was darin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf. Und nun geschah etwas sehr merkwürdiges. Der Man nestelte eben an der Schnur, mit der das Geschenk" verschnürt war, als sein Blick, scheinbar abwesend, auf das Zeitungsblatt fiel, in das die interessanten Adreßbuchblätter geschlagen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganzer dünner Körper (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen, er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, weder vor- noch nachher, habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder hatte ich niemals, weder vor- noch nachher, einen Mann so strahlend schauen sehen wir diesen Mann.

Da lese ich eben in der Zeitung", sagte er mit einer verrosteten mühsam ruhigen Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, daß die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, daß ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte." Und dann lachte er. Und wir alle, die erstaunt dabei standen und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, daß der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus dem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung, die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum morgen dauerte und alle befriedigte.

Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, daß dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.
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  #51  
Alt 12.12.2008, 22:34
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Die Christblume
Paula Dehmel

Einsam ist die Blume, von der ich euch heute erzählen will. Sie kennt nicht die frohen Tage des Frühlings noch die duftreichen Nächte des Sommers. Keine flüsternden Gefährtinnen wachsen neben ihr auf, kein Vogel singt sie in Träume. In Schnee und Eis muss sie schauen, der Nordwind streicht über sie hin, und das eintönige Krächzen der Rabenvögel ist ihre Musik.
Und doch ist sie weiß und zart wie nur eine ihrer Schwestern; anmutig wächst sie aus dem Kranze grüner Blätter empor, und ihr tiefer Kelch hütet die Geheimnisse der Blumen. Und sie fühlt keinen Winterschmerz! Still und stolz steht sie in ihrer Kraft. Sie weiß das sie begnadet ist: die einzige Blume, die im Winter blühen darf, die einzige Blume, die das heilige Christfest feiern darf mit den Bewohnern der Erde. Sage mir, Schwester der Lilie, was rief dich ins winterliche Leben? Was gab dir die Macht, der Kälte und dem Sturm zu trotzen? Warum schläfst du nicht im Frieden der Erde?
Die Blätter rauschen mir Töne und Akkorde zu, sie raunen und rauschen - Silben höre ich, Worte - und nun will ich ihre Geschichte erzählen.
Es ist Totensonntag. Auf dem Wege zum Kirchhof geht eine stille dunkle Schar Menschen. sie tragen Totenkränze, Tannenreiser und Immortellen, immergrüne Eichen und rote Vogelbeeren. Sie gehen schweigend, als dächten sie vergangener Tage oder träumten in banger Hoffnung von künftiger Helle. Der letzte im Zug ist ein kleiner Knabe, der auf der Schulter ein grünes Holzkreuz trägt, eine schwere Last für einen jungen Körper! Es ist ein armseliges Kreuz, roh gefügt, mit abgeschrägten Ecken. Des Knaben Blicke aber ruhen liebevoll darauf; seine jungen, ungeübten Hände haben wohl selbst das Holz geschnitzt.
Aus der Kapelle des Totenhauses läutet die kleine Glocke, und andächtig zieht die Schar der trauernden durch das Portal. Ein leiser Wind geht mit ihnen; es sind die Todesengel, die dem Zuge unsichtbar folgen. Vom breiten Mittelwege aus verteilen sich lautlos die Gäste der Toten. Bald hat auch der blasse Knabe das Grab seiner Mutter gefunden. Es ist ein frischer Hügel; ohne Schmuck und ohne Pflege liegt er im kühlen Frühnebel. Der Kleine kniet nieder, pflanzt sein Kreuzlein zu Häupten der Toten und betet leise. Der Engel, der ihm folgte, beugt sich nieder, um die Inschrift zu lesen. "Liebe Mutter", steht in großen, kindlichen Buchstaben auf dem Querholz, sonst nichts. Da küsst der Engel das Kind aufs Haupt.
Die andern Gräber schmückten sich nach und nach mit den Blumen und Kränzen der Leidtragenden; des Knaben Augen aber sahen angstvoll über das leere Grab, und ein Zucken des Schmerzes ging über das kleine Gesicht. "Lieber Gott," betete er leise, "lass meiner Mutter auch eine schöne Blume wachsen, ich muss fort ins Weisenhaus und kann ihr keine mehr bringen. Du aber kannst es, lieber Gott, du bist gut und allmächtig, und ich bitte dich so sehr."
Da küsste der Engel das Kind zum zweiten Male, und ein stiller Schein der Gewissheit kam in die braunen Augen des Knaben. Er rückte das Kreuzlein noch einmal zurecht, küsste das Grab seiner Mutter und folgte den andern Leuten, die den Heimweg antraten.
Der Engel aber flog heim zu Gott und brachte ihm den Wunsch des Knaben. "Es ist Winter," sprach der Herr, "alle Pflanzen schlafen; soll ich diese Kindes wegen meine ewigen Gesetze ändern?" "Deine Allmacht, o Herr, ist größer als dein Gesetz, deine Güte reicher als dein Wille!" Da lächelte der Herr, dass die Wolken erstrahlten und ein Klingen durch die Sterne ging. "Komm", sagte er zum Engel, und sie traten schweigend in den Garten des Paradieses.
Dort blühen die Blumen, die achtlose Hände auf Erden fortgeworfen und achtlose Füße zertreten haben. Schöner blühen sie hier im himmlischen Licht als in der irdischen Sonne; und als der Schöpfer zu ihnen trat, reckten sich Ranken und Gräser ihm entgegen, und die Kelche strömten über von Duft und Glanz.
Gott aber trat zu einer weißen Lilie, nahm die zitternde aus dem Schoße des Himmels, küsste sie und gab sie dem Engel. "Dem Erdenkinde zur Freude und meinem Sohne zum Angedenken blühe diese Botin des Himmels künftig auf Erden in Eis und Schnee. Die Winde sollen ihren Samen durch die Länder des Nordens tragen; die Wärme meines Willens ströme durch ihre Wurzeln und bleibe ihr für die Dauer der irdischen Zeit!"
"Du aber lege das Zeichen des Todes ab und schütze den Knaben mit dem warmen Herzen. Breite deine Flügel um ihn aus, dass der Same, der in seiner Seele keimt, auch in Frost und Dürre nicht ersterbe, und die Blume der Menschenliebe daraus erblühe; sie ist holder als alle Blumen des Paradieses."
Dankbar neigte sich der Engel, küsste des Herrn Gewand und ging seinen Befehlen zu folgen.
So ist die Christblume auf die Erde gekommen, und fromme Menschen fühlen ihren heiligen Ursprung.





Paula Dehmel, 1862 - 1918
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Alt 16.12.2008, 22:40
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Das Wintersonnenmärchen
Otto Ernst



. . . Gestern in der Dämmerung vernahm ich hinter den winterlichen Nebelhüllen ein Licht und ein Klingen. Es war wie ein blinzelnder Stern, ein verirrter Klang . . .
Denn nun beginnt ja schon die große, heilige Dichtung, die die Leute "Weihnachten" nennen.
So schöne Dichtungen gibt es nur noch wenige. Eine heißt: "Entschwundene Kindheit"; eine andere: "Der nächste Frühling". Weiß jemand noch eine? Es ist ganz unbestimmt, wie lang die schöne Dichtung ist, die "Weihnachten" heißt. Es ist schon eine hübsche Zeit her, dass ich in erster Frühe aus dem Schlafe geweckt wurde durch ein eifriges und andauerndes Geplapper. Das Geplapper kam aus der Schlafstube der Kinder. Es war noch ganz dunkel. Ich horchte.
"Sechsundsechzigmal!"
"Nein, siebenundsechzig! Sieh mal: heut ist der achtzehnte, nicht? Bleiben also noch dreizehn Tage."
"Zwölf!"
"Ach Junge! Oktober hat doch einunddreißig!"
"Na ja: dreizehn."
"Und November hat dreißig, macht dreiundvierzig und dann noch vierundzwanzig vom Dezember, macht siebenundsechzig. noch siebenundsechzigmal schlafen, dann ist Weihnachten."
"Hm . . . "
So früh schon vernehmen die Kinder aus dem Winterdunkel das ferne Schimmern und Singen . . .
Und dann ziehen sie jeden Morgen eins ab: jetzt noch sechsundsechzigmal schlafen . . . jetzt noch fünfundsechzigmal
Ganz so früh fängt für mich das Weihnachtslied nicht an. Aber doch schon früh. Der erste hergewehte Hauch eines nahenden Gesanges ist so schön in seiner geheimen Ahnungsfülle!
Man entfesselt bei Tisch oder Dämmerung oder nachmittags, wenn man sich zu kurzer Ruhe aufs Faulbett gestreckt hat, ein Weihnachtsgespräch unter den Kindern. Mein Neunjähriger erzählt aus der Schule. Der Lehrer hat gesagt: "Wenn ihr nicht fleißig seid, kriegt ihr nichts vom Weihnachtsmann." Da haben die Jungen gelacht und gerufen: "Es gibt ja gar keinen Weihnachtsmann!" Da hat der Lehrer gesagt: "Soo? - Wer glaubt, dass es einen Weihnachtsmann gibt?" Da hat ein einziger Junge den Finger gezeigt: meiner. Und da haben die anderen ihn ausgelacht.
Diese Schande! Gerade mein Sohn, der Sohn eines Menschen, der mit hartnäckiger Bosheit für "unbeschränkte Aufklärung" eintritt - gerade der muss der einzige Gläubige sein in einer christlichen Schulklasse! Komm, Junge, ich muss dir die frommen Augen küssen; ich habe dich grenzenlos lieb in deiner einsamen Schande! So lange ihr lebt ,Kinder, soll es in eurer Seele blühen, und aus jedem verwelkten Glauben soll euch ein neuer keimen! Das ist mein Segen. Nur wenn man euch zwingen will zum Glauben, durch Kerkerstrafen oder Höllenpein, dann sollt ihr lachen, lachen aus voller Brust und beide Fäuste schütteln, zum Zeichen, dass ihr nötigenfalls bereit seid, sie zu brauchen! Auch ihr Mädels! Dass ihr mir nicht feige duckt, wenn euch einer sagt: "Ihr müsst an den Weihnachtsmann glauben, sonst leuchtet euch kein Tannenbaum!"
Wir haben immer unsere stille Freude an einem Experiment, meine Frau und ich. so um den September und Oktober herum sind die älteren unter den Kindern auch noch fest überzeugt, dass der Weihnachtsmann nirgends anders existiert als im Portemonnaie des liebenswürdigen Vaters. Natürlich genießen sie voll Glaubensfreiheit. Nur gelegentlich fällt ein Wort, dass man den Knecht Ruprecht auf der Straße getroffen, sich längere Zeit mit ihm über die diesjährige Tannen - und Puppenernte unterhalten habe, dass gestern Abend sein rauhaariger Kopf hinter den Eisblumen des Fensters aufgetaucht sei . . .
Im November etwa werden die rationalistischen Überzeugungen schwankend; die Nachrichten vom Weihnachtsmann werden mit einem merkwürdigen Schweigen aufgenommen. Wenn man ganz heimlich um den Lampenschirm herumschaut, dann sieht man große, stille Augen mit nachdenklichem Blick in die Ferne gerichtet. In einem Augenblick der Stille hört man ein tiefes Atmen. Im Dezember erfolgt dann die Kapitulation. Man nimmt den Glauben an den allein selig machenden Weihnachtsmann an und entsagt dem heidnischen Glauben an das Portemonnaie. Wer jetzt noch Zweifel äußert, wird von den anderen schon entrüstet zurechtgewiesen. Tout comme chez nous. Wenn dann der heilige Abend da ist und man hinter der Tür mit grässlich verstellter Stimme fragt: "Seid ihr denn auch artig gewesen?" - dann kann es allerdings geschehen, dass gerade das Jüngste mit pietätloser Unschuld antwortet: "Ja, Papa!" Den anderen sagt ein sicherer Instinkt, dass zu viel Gehör in diesem Augenblick inopportun wäre, dass ein stillschweigendes sacrifizio dell' intelletto genau so aussieht wie Frömmigkeit usw. Nachher freilich, wenn sie ihre Geschenke weg haben und der dunkle Tannenbaum seine goldenen Augen aufgeschlagen hat, dann schreien sie. "Ätsch, ich hab wohl gehört, dass du es warst, Papa, du hast so tief gesprochen: Wuwuwuwu . . . " Dann sind sie frech, dann ist die ganze Bande wieder ungläubig.
Die Kleinen erinnern einen halt so oft an die Großen. Wozu sollte man ihnen auch durchaus den Weihnachtsmann aufnötigen; es gibt ja so viel andere schöne Götter!
Bis ins heiratsfähige Alter erhält man ihnen den Glauben an den Weihnachtsmann doch nicht! Dann haben sie längst eine Menge anderer Glauben gehabt. Und später, wenn sie längst eingesehen haben, dass nur Liebe der Eltern es war, was ihnen einst die strahlenden Stunden der Weihnacht bescherte, dann werden sie finden, dass Liebe in dieser greuelvollen Welt viel wunderbarer, seltsamer und heiliger ist als ein Weihnachtsmann. Oh, wohl vermag er zu wachsen mit zunehmenden alter, der Glaube an die Wunderkräfte der Welt! Die Wunder, welche der naive Sinn schaut, sind ja nur Nürnberger Tand gegen die Wunder, welche die weltbewanderte Seele ahnt!
Wie gesagt, man entfesselt ein Weihnachtsgespräch unter den Kleinen. Das ist nicht schwer. "Was wünscht du dir?" frag ich die Kleinste.
"Ich wünsch mit `ne Puppe, die schlafen und schreien und trinken kann - aber richtig trinken! - und denn `ne kleine Babyflasche mit `m klein niedlichen Lutscher auf, und `ne ganz, ganz kleine, süße Klingelbüchse. Ist das ungeschämt?"
"Nein, das ist nicht unverschämt. Was schenkst du mir denn?"
"Ja, was wünscht du dir?"
"Ja, wie viel Geld hast du denn in deinem Spartopf?"
"Mama, wie viel hab ich?"
"Fünfundachzig Pfennige."
"Fünf'nachßig Fennig."
"Na, dann wünsch ich mir ein großes, schönes Haus mit einem großen, schönen Garten."
"Mm. Und was noch mehr?"
"Und dann einen schönen Wagen mit zwei wunderschönen Pferden davor!"
"O ja!! Un was noch?"
"Und ein großes Bauerngut mit lebendigen Pferden und Kühen und Schweinen und Ferkeln - aber richtige Ferkel, mein' ich, nicht solche, wie ihr seid!"
"Nein! Un was denn noch?"
"Ja - wenn du mir dann noch einen Original-Böcklin schenken willst - "
"Was?"
"Na lass nur, dazu reicht's doch nicht."
Dem Jungen brennt so ein Haupt- und Herzenswunsch auf der Seele, das sieht man. In seinen Augen glüht ein traumfernes Entzücken.
"Was möchtest du denn haben?"
"Vater - sag erst `mal, ob das Buch von Robinson teuer ist."
"Furchtbar teuer."
Sein kopf sinkt auf die Brust.
"Aber es geht vielleicht - `mal sehen."
Da entbrennen seine Augen.
"Vater - ich will auch gar nichts anderes haben, wenn ich nur das Buch von Robinson kriege!"
Solch ein Verlangen stillen: das nenn ich eine Weihnachtsfreude!
Es ist merkwürdig, dass sie die finanzielle Seite der Frage erwägen, obgleich sie doch an den Knecht Ruprecht glauben. Aber man betet ja auch vertrauensvoll zum heiligen Florian und versichert sich dann gegen Feuerschaden.
Und merkwürdig ist es auch, dass sie sich gar nichts "Praktisches" und "Nützliches" wünschen, wie wollene Unterjacken und dergleichen. Mein Nachbar, ein gewisser Herr Schraffelhuber, hat einen Jungen von acht und einen von sechs Jahren. "Ich schenke meinen Jungen grundsätzlich nur nützliche Sachen zu Weihnachten", sagte er zu mir, "wie Stiefel, Strümpfe, Mützen, Schulränzel und dergleichen. All der andere Tand und Spielkram verleitet sie nur zur Torheit, Faulheit und Unaufmerksamkeit und bringt sie dahin, den Wert des Geldes gering zu achten. Die Großmutter schenkt ihnen ein Stück Spielzeug, und das genügt. In ein paar Tagen ist es doch wieder kaputt."
"Herr Schraffelhuber", sagte ich darauf, "Herr Schraffelhuber, wissen Sie, was ich Ihnen gönne, Herr Schraffelhuber? Ich gönne Ihnen, wenn Sie mal in den Himmel kommen, dass der Herrgott Ihnen einen großen und dauerhaften Regenschirm schenkt und sagt: "Hier, mein lieber Schraffelhuber, hast du einen großen und dauerhaften Regenschirm als Krone des Lebens. Dein Platz ist nämlich draußen in meiner dicksten Regenwolke. Da wirst du diesen praktischen, nützlichen und zweckmäßigen Regenschirm zu schätzen wissen. Ich wünsch dir eine nutzbringende ewige Seligkeit, mein lieber Schraffelhuber!" (sagte ich!) "Das gönne ich Ihnen."
Seitdem hasst er mich; aber wenn solche Leute mich hassen, das wärmt mich so recht innerlich, als wär's der herrlichste Weihnachtspunsch!
An solchen Festen soll ja der Beschenkte kosten "von dem goldnen Überfluss der Welt", und man soll ihm spenden, was ihm unter gewöhnlichen Umständen nicht erreichbar wäre! Wenn der arme Teufel barfuss läuft, so schenkt ihm Stiefel und Strümpfe; wenn er aber des Leibes Notdurft hat, so schenkt ihm eine Trüffelwurst oder Henry Clays oder eine Radierung von Klinger oder - warum nicht, wenn er sich's wünscht?! - eine kleine Drehorgel, gerade weil es Verschwendung ist, weil es Luxus ist, weil es ein Spiel ist! Ach mein Gott, wir haben ja alle das Spiel so nötig! Dazu sind uns ja Tage des Festes gegeben, dass wir einmal herauskommen aus der verdammten Trivialität der Regelmäßigkeit! Darum verzehrt man ja am Weihnachtsfeste so viele Hasen, Gänse, Enten, Karpfen, Kuchen, Äpfel, Nüsse, Mandeln, Rosinen, Datteln, Feigen, Mandarinen und Apfelsinen mit den zugehörigen Getränken, weil selbst die geregelte Verdauung etwas ist, was unterbrochen werden muss, wenn es nicht langweilig werden soll!
Ich kann euch sagen: Ich hab die Nützlichkeit geschmeckt. Die guten Eltern waren keine Prosaiker, wenn's nicht nötig war. Aber als ich vierzehn Jahre alt war, da hieß es: "Der große Junge braucht wohl kein Spielzeug mehr; der kriegt diesmal was Nützliches." Natürlich stimmte ich stolzen Herzens zu; es war ja noch vierzehn Tage vor Weihnachten. Ich, ein junger Mann von vierzehn Jahren, soll mit Spielsachen schenken lassen - lächerlich! Als dann aber die Bescherung kam, da waren wirklich keine da! Die jüngeren Geschwister hatten niedliche Windmühlen und Baukästen und Hühnerhöfe; aber ich hatte nicht ein einziges Stück, sag ich euch! Nur Kragen, Strümpfe, Halstücher und so etwas. Geweint hab ich sehr, aber nur nach innen! Zwei oder drei bitterheiße Tropfen. Nach außen hab ich den jungen Mann aufrechterhalten. Ein paar Mal hab ich mich wohl vergessen und heimlich mit den Sachen der anderen gespielt; aber - du lieber Himmel - mit vierzehn Jahren ist man auch noch ein recht junger Mann. Als ein jüngerer Bruder mich verspottete, weil ich mit seiner Windmühle spielte, vermochte ich ihm mit Hoheit und einem großen Jungensbaß zu erwidern: "Du Dummbart, ich wollte nur mal sehen, wie sie eingerichtet ist."
Wenn eure Kinder mit vierzehn, sechzehn, achtzehn Jahren und später noch spielen mögen, so stört sie nicht. Denn das sind gewöhnlich die Menschen, die draußen in der ernsten Welt ihr Werk angreifen mit froher Kinderkraft und die mit naivem Lächeln bewältigen, was dem Pedanten unmöglich schien.
Ja, wenn ich nicht fürchten müsste, mich grenzenlos zu blamieren, so würde ich irgendeinem verschwiegenen Freunde in aller Heimlichkeit gestehen, dass mir bei den Weihnachtseinkäufen in den Spielzeugläden oft ganz weich und kindisch ums Herz wird. Meine Frau behauptet auch, dass ich immer teuere Dinge kaufte, als ich mir zu Hause vorgenommen hätte. Sie verschweigt dabei allerdings, dass sie die geringere Ware so lange mitleidig betrachtet und die bessere so lange reizend findet, bis ich mich für das Reizende entscheide. Das muss ich ja zugeben: die letzte Entscheidung überlässt sie mir. Wenn ich also nicht Manns genug bin, so trifft ja mich die Verantwortung. Aber wenn ich Raubtiere sehe, die wirklich wie Tiere aussehen, mit wirklichem Fell überzogen sind, und darunter einen Bären, der wirklich diesen charakteristischen Bärenblick hat, diesen bonhommistischen Raubtierblick, diesen blutdürstigen Honigblick, diesen politischen Pastorenblick, einen Bären, der noch dazu nicht größer ist als der Elefant in derselben Schachtel, vielleicht sogar etwas kleiner -: dann wird ich eben schwach, dann kann ich nicht widerstehen.
Und nun die Heimlichkeiten, wenn man nach Hause kommt. Welch ein Glanz umflimmert solch ein graupapiernes Paket! Fragende Wünsche, zweifelnde Hoffnungen umflattern es wie Falter mit farbenwechselnden Flügeln! Und wie muss man sich zusammennehmen, um die Kinder zu überzeugen, dass man keine Ahnung habe, womit sie einen überraschen wollen.
Und näher rückt die Zeit - "jetzt noch zehnmal schlafen". . . "jetzt noch neunmal". . . Da kommen sie überall her auf weichen, weißen Schwingen, die schöne Weihnachtslieder. Sind sie wirklich alle so schön, oder ist es nur, weil bei jedem Ton eine ganze vergangene Weihnacht heraufsteigt? Und dann tönt wieder die liebliche Geschichte von dem Kindlein in der Krippe, von der Herrlichkeit, die sich auftat über den nächtlichen Hirten, und von dem Stern, der über der Hütte von Bethlehem stand. Es war ein großer, reiner, sanfter Stern. Seine Schönheit leuchtet allen Landen; aber vor allem herrlich schaute er herab auf Germaniens weißstarrende Winterwälder, auf Deutschlands nebelrauchende Wiesen! Die Kinder Germaniens lieben aus innerster Seele das Licht, das durch schweigende Nebel dringt: das feuchte Silber der Wintermorgensonne, der Elfen nächtlich wogende Schleier, durch die das stille Auge des Mondes blickt. Wenn die Äste krachen unter der Last des Eises und schweigender Schnee seine Schwelle längst schon begrub, dann steht der Deutsche am dunklen Fenster und spricht mit dem letzten roten Schimmer der sinkenden Wintersonne.
Dies ist ihm das rechte Neujahrsfest; es ist Wintersonnenwende. Heute denkt er zurück, wen er zu sehr gehasst, wen er zu wenig geliebt. Er sieht im müden, warmen Lichte der letzten Röte den Nachbarn Fuhrmann nach Hause kommen, den Tannenbaum unter dem Arm, dass die Spitze durch den Schnee schleift. Ein Hündchen springt über den Weg und kehrt wieder ins Haus zurück. Wer wollte denn heut nicht daheim sein? Weihnacht feiert wohl selbst der Stein am Wege. Über allem ist ein lächelnder, unerschütterlicher Wille zum Frieden ausgebreitet. Und ganz am äußersten Rande des weiten Schneefelds sieht nun der Deutsche ein niedriges Dach, und über der schneeverwehten Hütte entzündet sich mehr und mehr ein Stern. Und ganz - ganz leise und ganz fein - aber doch so klar - und so ruhevoll kommt es daher gezogen, ein Lied, ach ein feines, wunderbares Lied:

"Es ist ein Reis entsprungen
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art.
Und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter,
wohl zu der halben Nacht."

Das ist ein deutscher Sang. Denn das erquickt den Deutschen am innigsten, wenn aus dem verschneiten Winterdunkel ein Schimmer dringt, wenn aus totenstillen Winternebel langsam die Sonne des kommenden Frühlings blüht.
Und wenn nun hinter ihm im Dunkel der geschmückt schon harrende Baum mit leisem Geräusch die Zweige dehnt - und wenn die Kinder vor der Tür stehen und die schwellenden Wünsche in ihren Herzen aufbrechen zu heißblühendem Verlangen - dann ist das Wintersonnenmärchen auf seinem Gipfel, dann wirkt sie ihren höchsten Zauber, die heilige Dichtung, die die Menschen "Weihnacht" nennen.
Es gibt nur noch wenige Dichtungen, die so schön sind. Eine heißt "Entschwundene Kindheit", eine andere "Der nächste Frühling". Weiß jemand noch eine?
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  #53  
Alt 21.12.2008, 20:58
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Die Weihnachtskatze

Verfasser James Herriot(1916 - 1995)


Wenn ich an Weihnachten denke, fällt mir immer eine ganz bestimmte kleine Katze ein. Zum erstenmal begegnete ich ihr an einem Herbsttag, als Mrs. Ainsworth mich gebeten hatte, nach einem ihrer Hunde zu sehen. Überrascht schaute ich mir das kleine struppige Geschöpf an, das da vor dem Kamin saß.
"Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Katze haben", sagte ich.
Mrs. Ainsworth lächelte. "Wir haben auch keine. Das ist Debbie. Sie ist eine Streunerin. Sie kommt zwei- oder dreimal in der Woche, und wir geben ihr etwas zu fressen."
"Haben Sie den Eindruck, daß sie bei Ihnen bleiben möchte?"
"Nein." Mrs. Ainsworth schüttelte den Kopf. "Sie ist ein scheues kleines Ding. Kommt hereingeschlichen, frißt ein bischen, und schon ist sie wieder weg. Sie hat etwas Rührendes, aber sie will offenbar weder mit mir noch mit irgend jemand sonst etwas zu tun haben."
Ich sah mir die Katze wieder an. "Aber heute will sie nicht einfach nur gefüttert werden."
"Das stimmt. Es ist komisch, aber ab und zu kommt sie hereingehuscht und sitzt ein paar Minuten am Kamin. Als ob sie sich einmal etwas Gutes gönnen möchte."
"Ja, ich verstehe." Es war etwas Außergewöhnliches in Debbies Haltung. Sie saß kerzengerade auf dem dicken Teppich vor dem Kamin und machte keine Anstalten, sich zusammenzurollen oder zu putzen, sondern blickte nur still vor sich hin. Und irgend etwas an dem staubigen Schwarz ihres Fells, ihrem halbwilden, mageren Äußeren sagte mir, daß das hier ein besonderes Ereignis in ihrem Leben war, eine seltene und wunderbare Sache. Sie genoß voll Wonne eine Behaglichkeit, von der sie sonst nicht einmal träumen konnte.
Während ich sie noch beobachtete, drehte sie sich um, schlich lautlos aus dem Zimmer und war fort. "So ist das immer mit Debbie", lachte Mrs. Ainsworth. "Sie bleibt nie länger als zehn Minuten."
Mrs. Ainsworth war eine mollige Frau mit freundlichem Gesicht, etwas über vierzig und genau so, wie ein Tierarzt sich seine Kunden wünscht - wohlhabend, großzügig und Besitzerin von drei verhätschelten Bassets. Der für diese rasse typische leidende Gesichtsausdruck brauchte sich nur ein wenig zu verstärken, und schon geriet Mrs. Ainsworth in größte Aufregung und eilte ans Telefon.
Meine Besuche bei Mrs. Ainsworth waren deshalb häufig, aber ohne ernsten Hintergrund, und ich hatte reichlich Gelegenheit, die Katze zu beobachten, die mich brennend interessierte. Einmal lagen die drei Bassets malerisch auf dem Kaminteppich und schnarchten, während Debbie in ihrer üblichen Haltung mitten unter ihnen saß - aufrecht, angespannt, den Blick traumverloren auf die glühenden Kohlen gerichtet.
Diesmal versuchte ich mich mit ihr anzufreunden. Mit geduldigem Schmeicheln und sanftem Zureden gelang es mir, mit einem Finger ihren Hals zu streicheln. Sie antwortete darauf, indem sie sich an meiner Hand rieb, wandte sich aber gleich danach zum Aufbruch. Sobald sie aus dem Haus war, schoß sie durch eine Lücke in der Hecke, und das letzte, was ich sah, war eine kleine schwarze Gestalt, die über das nasse Feld flitzte.
"Ich möchte nur wissen, wohin sie geht", sagte ich leise vor mich hin.
Mrs. Ainsworth stand plötzlich neben mir. "Wir sind bis heute nicht dahintergekommen.

Erst am Weihnachtsmorgen hörte ich wieder von Mrs. Ainsworth. Sie entschuldigte sich gleich: "Es tut mir so leid, Mr. Herriot, daß ich Sie ausgerechnet heute belästige." Aber bei aller Höflichkeit konnte sie die Sorge in ihrer Stimme nicht verbergen. "Es ist wegen Debbie. Irgend etwas stimmt nicht mit ihr. Bitte kommen Sie schnell."
Als ich über den Marktplatz fuhr, dachte ich wieder einmal, daß Darrowby an Weihnachten aussah wie zur Zeit von Charles Dickens: der menschenleere Platz mit dem hohen Schnee auf dem Kopfsteinpflaster, der auch von den Traufen längs der gitterbekrönten Dachkanten herabhing, die bunten Lichter der Christbäume, die durch die Fenster der dicht zusammengedrängten Häuser funkelten, freundlich und einladend vor dem kalten Weiß der dahinterliegenden Hügel.
Mrs. Ainsworths Haus war über und über mit Lametta und Stechpalme geschmückt; aus der Küche drang ein verführerischer Duft von Truthahn mit Salbei- und Zwiebelfüllung. Aber ihre Augen blickten sorgenvoll, als sie mich durch die Diele führte. Debbie lag regungslos auf der Seite, und dicht neben ihr, an sie geschmiegt, ein winziges schwarzes Kätzchen. "Ich habe sie einige Wochen nicht gesehen", sagte Mrs. Ainsworth. "Dann kam sie vor etwa zwei Stunden hierher - stolperte irgendwie herein und trug das Junge im Maul. Sie legte es auf den Teppich, und ich habe mich zuerst darüber amüsiert. Aber dann sah ich, daß etwas nicht stimmte."
Ich kniete nieder und fühlte mit der Hand über Debbies Hals und Rippen. Sie war magerer als je zuvor, ihr Fell war schmutzig und schlammverkrustet. Als ich ihr Augenlid herunterzog und die glanzlose weiße Bindehaut sah, wußte ich Bescheid. Während ich den Unterleib abtastete, schlossen sich meine Finger um einen harten Knoten tief in den Eingeweiden. Fortgeschrittenes Lymphosarkom. Endstadium und hoffnungslos.
Ich sagte es Mrs Ainsworth. "Sie liegt im Sterben - im Koma; sie leidet nicht mehr."
"Oh, das arme Ding!" Sie schluchzte und streichelte immer wieder den Kopf der Katze, während ihre Tränen auf das verfilzte Fell tropften. "Was muß sie durchgemacht haben! Ich hätte mehr für sie tun sollen."
Ein paar Augenblicke schwieg ich, denn ich verstand ihren Kummer. Dann sagte ich beruhigend: "Niemand hätte mehr tun können, als Sie getan haben."
"Aber ich hätte sie hierbehalten sollen - sie hätte es gut gehabt. Es muß schrecklich gewesen sein da draußen in der Kälte, als sie so krank war. Und dann hatte sie auch noch Junge! Wie viele mögen es wohl gewesen sein?"
Ich zuckte die Achseln. "Das werden wir wohl nie erfahren. Vielleicht nur dieses eine. Manchmal kommt das vor. Und ausgerechnet zu Ihnen hat sie es gebracht, überlegen Sie mal."
"Ja, das schon." Als Mrs. Ainsworth das schmutzige schwarze Bündel aufhob, öffnete sich das winzige Mäulchen zu einem tonlosen Miau. "Ist das nicht seltsam? Sie war schon halb tot und brachte ihr Junges hierher. Und gerade zu Weihnachten."
Ich beugte mich nieder und legte die Hand auf Debbies Herz. Es schlug nicht mehr. Ich hüllte den kleinen Körper in ein Tuch und trug ihn in den Wagen. Als ich zurückkam, streichelte Mrs. Ainsworth noch immer das Kätzchen, und ihre Tränen waren versiegt. "Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Katze."
Ich lächelte. "Nun, es sieht ganz so aus, als hätten Sie jetzt eine."

Das Kätzchen wuchs rasch zu einem schönen Kater heran, dem sein ungestümes Wesen den Namen Frechdachs einbrachte. Er war in jeder Hinsicht das Gegenteil seiner scheuen Mutter. Wie ein König stolzierte er über die prächtigen Teppiche im Hause Ainsworth.
Bei meinen Besuchen beobachtete ich mit Vergnügen, wie er sich entwickelte, und ganz besonders gern erinnere ich mich an das Weihnachtsfest ein Jahr nach seinem Einzug.
Ich war wie üblich unterwegs gewesen - die Tiere haben bis heute nicht gelernt, Weihnachten als einen Feiertag anzusehen. Das viele Anstoßen mit gastfreundlichen Bauern hatte mich in eine rosige Stimmung versetzt, und auf dem Heimweg hörte ich Mrs. Ainsworth rufen: "Frohe Weihnachten, Mr. Herriot! Kommen Sie herein, und trinken Sie etwas zum Aufwärmen!" Das Aufwärmen hatte ich nicht nötig, aber ich fuhr ohne zu zögern in die Auffahrt. Im Haus war alles froh und festlich wie ein Jahr zuvor. Und diesmal gab es keinerlei Grund zu irgendeinem Kummer - Frechdachs war ja da.
Mrs. Ainsworth lachte. "Wissen Sie, für die Hunde ist er ein rechter Quälgeist." Für die Bassets war das Auftauchen des Katers so etwas wie das Eindringen eines Flegels in einen exklusiven Klub.
"Ich möchte Ihnen etwas zeigen." Mrs. Ainsworth nahm einen harten Gummiball von einem Schränkchen und ging hinaus. Frechdachs folgte ihr. Sie warf den Ball über den Rasen, und der Kater sprang ihm nach; dabei konnte man seine Muskeln unter dem schwarzglänzenden Fell spielen sehen. Er packte den Ball mit den Zähnen, trug ihn zu seiner Herrin, ließ ihn fallen und wartete gespannt. Ich traute meinen Augen nicht. Eine Katze, die apportierte!
Die Bassets schauten voller Verachtung zu. Nichts hätte sie jemals dazu bringen können, hinter einem Ball herzujagen.
Mrs. Ainsworth wandte sich zu mir: "Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?"
"Nein", erwiderte ich, "noch nie. Das ist ja wirklich ein ganz besonderer Kater."
Sie nahm Frechdachs auf, hielt ihn dicht ans Gesicht und lachte, als er schnurrte und sich verzückt an ihre Wange schmiegte.
Als ich ihn ansah, ein Bild des Glücks und der Zufriedenheit, mußte ich an seine Mutter denken. Ging ich zu weit, wenn ich mir vorstellte, daß diese todkranke Kreatur mit letzter Kraft ihr Junges zu dem einzigen behaglich warmen Plätzchen brachte, das sie je kennengelernt hatte, in der Hoffnung, daß es ihm dort gut gehen werde? Vielleicht.
Aber ich war offenbar nicht der einzige, der so dachte. Mrs. Ainsworth lächelte mir zu. "Debbie würde sich freuen", sagte sie.
Ich nickte. "Ja, ganz sicher. Es war genau heute vor einem Jahr, als sie ihn herbrachte, nicht wahr?"
"Ja." Sie drückte Frechdachs an sich. "Das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe."


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