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Alt 29.03.2010, 13:04
Benutzerbild von nicole100978
nicole100978 nicole100978 ist offline
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Registriert seit: 02.03.2009
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Standard Gekämft, gehofft ... und doch verloren

Ich habe lange mit mir gerungen, ob es die folgenden Zeilen geben soll oder nicht. Es ist nicht einfach, seine Erfahrungen zum Thema Krebs in Worte zu fassen, zu viele schmerzliche Erinnerungen sind damit verbunden. Aber für mich ist das Schreiben eine Art, meine Erinnerungen zu verarbeiten.

Es geht in diesem Bericht um meinen Vater, der im Jahr 2000 an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte.
Das Datum der Diagnosestellung war der 20.12.2000. Bis zu diesem Tag hatte mich das Thema Krebs noch in kleinster Weise berührt und ich hatte mich auch noch nie damit beschäftigt. So traf sowohl mich als auch meinen Papa die Diagnose völlig unvorbereitet.
Zum Verständnis für unser Unverständnis muss ich dazusagen, dass mein Vater bis zu diesem schicksalhaften Jahr niemals krank war, von einer harmlosen Erkältung mal abgesehen. Er war 63 Jahre alt und noch nie im Krankenhaus gewesen.

Im Herbst des Jahres 2000 begann er sich unwohl zu fühlen, ohne dabei genau sagen zu können, um welche Art Unwohlsein es sich handelte. Viele Sachen, die er früher sehr gern gegessen hatte, schmeckten ihm auf einmal nicht mehr. Er fühlte sich lustlos und schlapp. Zum Arzt gehen kam für ihn natürlich nicht in Frage. An einem Wochenende im November, mein jetziger Mann und ich waren zu Besuch bei Papa, wunderten wir uns am Sonntagmorgen, dass Papa noch im Bett lag. Das war völlig untypisch für ihn, er war sonst immer der Erste morgens. Ihm war schwindelig und ihm war übel. Ich konnte ihn doch überzeugen, zum Arzt zu fahren. Der Arzt wies mich nach der Untersuchung an, Papa sofort und ohne Umwege ins Krankenhaus zu bringen, da er Herzrhythmusstörungen festgestellt hatte. Da meine Mutter einige Jahre zuvor an einem Herzinfarkt gestorben war , packte mich das nackte Entsetzen und ich brachte Papa trotz seines Protestes sofort in die Klinik. Was dann folgte waren eine Reihe von Untersuchungen, die alle kein wirkliches Ergebnis brachten. Man entschied, dass Papa in einer Herzklinik genauer untersucht werden sollte. Also verbrachte er eine Woche in der Herzklinik in Karlsburg mit dem amtlichen Ergebnis, dass er keinerlei Herzprobleme hätte, sondern im Gegenteil ein sehr kräftiges Herz habe. Er fühlte sich auch allgemein besser, nur dass er über leichte Bauchschmerzen, hauptsächlich nach dem Essen, klagte. Bei seiner Entlassung aus der Herzklinik erhielt er neben den üblichen Entlassungspapieren auch einen Befundbericht für seine Hausärztin mit, natürlich in einem verschlossenen Umschlag.

Er kam am 20.12.2000 nach Hause und ich fuhr natürlich sofort zu ihm ( wir wohnten damals ca 100km entfernt). Er berichtete mir von den positiven Befunden bezüglich des Herzens. Mich beschlich allerdings ein ungutes Gefühl, als er den verschlossenen Umschlag erwähnte, denn es musste ja schließlich auch eine Ursache für die gesundheitlichen Probleme geben. Also öffnete ich den Brief. Ich verstehe zwar nicht viel von medizinischen Fachbegriffen, aber was das, was da unter dem Stichpunkt Nebenbefund stand, zu bedeuten hatte, wusste ich: Pankreas-Ca. Papa wusste es nicht und ich erklärte ihm, dass es Krebs bedeutete. Er brach nicht zusammen oder war sonderlich erschüttert. Er war wie gesagt, in seinem Leben nie ernsthaft krank gewesen und war sicher überzeugt, auch diese Krankheit überwinden zu können. Das war ich zu dem Zeitpunkt auch noch. Gut - Krebs ist eine schwerwiegende Krankheit, aber es gibt viele Mittel und Wege, gegen diese Krankheit anzukämpfen- dachte ich.

Noch am selben Abend rief ich Papas Hausärztin an und erzählte ihr von dem Brief. Sie war nicht sauer, dass wir ihn geöffnet hatten und machte sich sofort auf den Weg zu uns. Sie bestätigte unsere Vermutung, dass es sich eindeutig um einen in der Bauspeicheldrüse festgestellten Tumor handelte, der bereits Metastasen in den Nebennieren gebildet hatte, daher kamen auch die Herzprobleme, denn die Nebennieren produzierten Hormone, die bei übermäßiger Produktion derartige Auswirkungen auf das Kreislaufsystem haben würden. Sie erklärte uns das weitere Vorgehen. Es würde keine OP geben, dazu sei der Krebs zu weit fortgeschritten, sondern man würde eine Chemotherapie beginnen, die das Wachstum der Tumore bremsen sollte und sie vielleicht sogar verkleinern könnte. Mein Vater erhielt einen Termin für die Krebssprechstunde in unserem Krankenhaus.
Was wir damals fühlten, kann ich nicht mehr genau sagen, aber die Endgültigkeit der gestellten Diagnose war keinem von uns beiden damals bewusst.

In der Krebssprechstunde wurden die Termine für die Chemotherapie besprochen. Die Ärztin war sehr nett und antwortete geduldig auf alle unsere Fragen. Papa erhielt den so genannten Krebspass, in dem alle wichtigen Daten festgehalten wurden. Unter anderem auch das Tumorstadium, in seinem Fall T4. Heute weiß ich, dass das Endstadium heißt. Sie erwähnte auch die Nebenwirkungen, die auftreten könnten. Papa war etwas mulmig zumute, als er Ende Februar zur ersten Behandlung antrat. Die Behandlung wurde einmal wöchentlich ambulant durchgeführt und stellte die ersten vier Wochen kein Problem dar. Weder fielen ihm die Haare aus, noch war ihm übel. Es lief wirklich gut. Ich fuhr einmal die Woche zu ihm, um ihn ins Krankenhaus zu bringen und nach den ca. 4 Stunden, die die Behandlung dauerte wieder abzuholen.

Das alles änderte sich nach vier Wochen. Ich fuhr wie gewohnt am Donnerstag morgen los. Als ich bei Papa ankam, fiel mir sofort auf, dass er deutlich schlechter aussah als sonst. Er wirkte sehr müde und erschöpft und war erschreckend blass. Er meinte aber, dass es ihm gut gehe. Also versuchte ich, mir keine Sorgen zu machen und fuhr mit ihm ins Krankenhaus zur Chemotherapie. Routinemäßig wird vor Beginn jeder Behandlung eine Blutabnahme durchgeführt. Diesmal waren die Ergebnisse viel schlechter als die Male zuvor. Die Ärztin entschloss sich aber dennoch, die Behandlung wie geplant durchzuführen. Nach der ganzen Prozedur fuhren wir wieder nach Hause. Papa ging es sehr schlecht und er musste sich übergeben. Da waren sie nun also, die angekündigten berüchtigten Nebenwirkungen der Chemo-Folter. Ihm ging es so schlecht, dass ich mich entschloss, nicht wie geplant, am Abend nach Hause zu fahren, sondern über Nacht zu bleiben. Das erste Mal seit der Diagnose hatte ich wirklichen einen greifbaren Grund, mir Sorgen zu machen. In der Nacht konnte Papa vor Schmerzen nicht schlafen, obwohl er nicht ein einziges Mal klagte. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte, ich hätte ihm gern einen Teil der Schmerzen abgenommen. Schmerzmittel hatte er noch nicht verschrieben bekommen und so musste er die Schmerzen aushalten. Ich fühlte mich schrecklich hilflos, ich konnte nichts tun außer einfach da zu sein.

Am nächsten Morgen schien es ihm besser zu gehen und er überzeugte mich, dass er gut allein klar kommen würde und ich beruhigt nach Hause fahren könnte. Mir war zwar nicht ganz wohl dabei, aber ich machte mich doch auf den Weg nach Hause.

Das Wochenende verbrachte ich damit, mir Sorgen zu machen und Gedanken darüber, wie es wohl weitergehen würde. Ich versuchte, so oft wie möglich, bei Papa anzurufen, ohne ihm damit auf die Nerven zu gehen. Er versicherte mir zwar, dass es ihm besser gehe, aber so ganz überzeugen konnte er mich davon nicht.
Aus diesem Grund beschloss ich auch am Montag wieder zu ihm zu fahren. Die Uni konnte ruhig mal ein paar Tage auf mich verzichten und ich hätte eh keine Ruhe gehabt, mich auf irgendwelche Vorlesungen zu konzentrieren. Papa war in relativ guter Verfassung, sein Körper hatte sich wieder etwas von den Strapazen der Chemo erholt und ich bekam ihm sogar dazu, etwas Gekochtes zu essen. Er hatte Schmerzen, ganz klar, aber trotzdem ging es wieder leicht bergauf und er war frohen Mutes.

Der Donnerstag rückte näher und ich konnte spüren, wie mit ihm auch die Angst wieder näher kam. Wie würde es diesmal sein? Ich versuchte alles, um Papa auf andere Gedanken zu bringen und mich selbst damit zu beruhigen, dass es gar nicht wieder so schlimm werden musste. Aber es wurde schlimm. Die Blutwerte waren dermaßen schlecht, das die Ärztin anordnete, nach dieser Behandlung erst einmal zwei bis drei Wochen Pause zu machen. Papa bekam die Infusion und schon während der Tropf das Gift in den Körper laufen ließ, konnte ich sehen, dass es ihm schlechter ging. Er hatte Mühe, im Behandlungssessel sitzen zu bleiben, so dass man ihn schließlich auf einer Krankenliege platzierte.

Ich habe meinen Vater als einen sehr starken Menschen kennen gelernt und deshalb war es für mich erschütternd, ihn so zu sehen. Er ertrug das ganze Prozedere mit einer Ruhe und Geduld, obwohl er es vor Schmerzen kaum aushielt. Er fragte auch nicht nach Schmerzmitteln. Er tat, was die Ärzte und Schwestern von ihm erwarteten, in der Hoffnung, wieder gesund zu werden.

Nach der Chemo weigerte er sich zwei Tage lang, überhaupt irgendetwas zu essen, weil ihm so übel war und er nichts bei sich behalten konnte. Er wurde immer schwächer. Den Großteil des Tages verbrachte er auf der Couch. Früher hatte er seine Zeit im Garten oder im Wald verbracht (er war Forstarbeiter) und nun konnte ihn das herrlichste Frühlingswetter nicht nach draußen locken. Er trank schlückchenweise Tee und nach drei Tagen auch ein wenig Hühnersuppe. Es begann ihm wieder ein wenig besser zu gehen und mit jedem Tag wurde er etwas kräftiger. Wir wussten ja nun auch, dass mit der Chemotherapie erst einmal Pause war und so überredete ich ihn, mit zu mir nach Hause zu kommen und sich ein paar Tage um nichts kümmern zu müssen.

Das tat er auch, und es tat ihm gut. Ihm ging es gesundheitlich besser, bei leichtem Essen waren die Schmerzen erträglich und wirkte auch nicht mehr so müde und kraftlos. Wir unternahmen sogar einige Sachen, zum Beispiel einen Ausflug ins Arboretum, was im Frühling eine wahre Blütenpracht ist. Es war eine sehr schöne Woche die mir sehr stark in Erinnerung geblieben ist, es war fast alles so wie früher.

Die zwei Wochen bis zur nächsten Chemo verbrachte er zu Hause. Ihm ging es so gut, dass er wieder begann, sich selbst etwas zu kochen und kleine Spaziergänge zu unternehmen.
Das es ihm besser ging, bestätigten auch die Blutuntersuchungen vor der nächsten Behandlung. Doch die Chemo tat wieder ihr übriges und einige Stunden nach der Behandlung begannen die Schmerzen, die Übelkeit, die Müdigkeit…Er wirkte völlig kraftlos und schien sich mit allem abgefunden zu haben. Er lag einfach nur da auf seinem Sofa, wirke völlig teilnahmslos und resigniert. Ich blieb noch bis Samstag bei ihm und versuchte ihn so gut wie es ging aufzupäppeln. Es wurde wieder etwas besser, doch das Wissen, dass in nicht mal einer Woche die nächste Behandlung anstand, sorgte dafür, dass er sich nicht wirklich besser fühlen konnte. Ich fuhr am Samstag nach Hause. Ich rief ihn täglich an, doch die Telefonate konnten mich nicht beruhigen. Er redete mit mir, aber ich fühlte, dass er völlig apathisch war und nur mir zuliebe sagte, es gehe ihm besser. Ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen und er käme schon klar.

So ging es einige Wochen. Ich fuhr regelmäßig am Dienstag zu Papa und blieb bis Samstag. Dann waren die akutesten Nebenwirkungen der Chemotherapie abgeklungen. Ihm ging es schlecht, aber er versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Ich wäre gern ständig in seiner Nähe gewesen, aber das war aufgrund der Entfernung ja nicht möglich. In der Zeit, in der ich nicht bei ihm war, telefonierten wir mehrmals täglich.

Im Mai wurde die Situation dann noch schlimmer, die Therapie nahm ihn immer mehr mit und raubte ihm das letzte bisschen Kraft, was er noch hatte. Die Ärztin verschrieb ihm Enzyme, die die Bauchspeicheldrüse nun nicht mehr produzierte. Die Tabletten sollten die Schmerzen nach dem Essen lindern. Papa nahm die Tabletten, wenn ich sie ihm gab. Von allein hatte er nicht mehr den willen und die Kraft, daran zu denken. Er aß nur noch, wenn man ihn quasi dazu zwang und nahm immer mehr ab. Er war völlig antriebslos und hatte jeden willen, gegen die Krankheit zu kämpfen, verloren. Er schlief nur noch im Sitzen, soweit man überhaupt von Schlafen reden konnte. Im Liegen waren die Schmerzen unerträglich geworden.

Eines Tages, als ich bei mir zu Hause war, telefonierten wir wieder einmal miteinander. Das war das schlimmste Gespräch, an das ich mich erinnern kann. Er sagte, dass er nun nichts mehr essen und trinken würde und es dann sicher schnell vorbei sein würde. Ich war entsetzt. Er wollte aufgeben. Dabei kämpfte ich doch noch immer. Ich konnte und wollte mich nicht damit abfinden, dass ich ihn verlieren sollte. Ich setzte mich ins Auto und fuhr die Strecke zu ihm. Mir war klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Das Alleinsein war für ihn sehr schlimm und ich hatte auch keine ruhige Minute, wenn ich nicht in seiner Nähe war.

Mein damaliger Freund und ich begannen schon am darauf folgenden Wochenende damit, eine kleine Wohnung in unserer Nähe für ihn zu suchen. Bei uns in der Wohnung wollte er nicht wohnen, ich denke, um uns nicht zur Last zu fallen und wenigstens ein stückweit sein eigenes Reich zu behalten. Eine passende Wohnung war bald gefunden und auch die Fortführung der Chemotherapie in Greifswald war bald geklärt.

Ende Juni fand der Umzug statt. Zu der Zeit gab es wieder eine Therapiepause und es ging Papa etwas besser. Er konnte sogar ein wenig mithelfen beim Umzug.

In Greifswald wurde die Therapie dann fortgesetzt, ebenfalls ambulant. Die ersten Sitzungen vertrug er ganz gut, zumal er dort auch endlich Schmerzmittel(Morphine) verschrieben bekam. Diese Tabletten halfen am Anfang ganz gut, und zusammen mit den Enzymen konnte er sogar wieder Kleinigkeiten fester Nahrung zu sich nehmen. Das ständige Völle- und Druckgefühl im Bauch waren aber weiterhin so unangenehm, dass sie ein Schlafen im Liegen unmöglich machten. Mittlerweile war auch die Leber in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass sich das Weiße in seinen Augen und seine Haut gelb verfärbten. Ich war bei ihm, sooft es möglich war und versuchte ihn abzulenken. Nebenbei hatte ich aber eine Ausbildung begonnen, so dass ich tagsüber arbeiten war. Aus diesem Grund habe ich ihm ein Handy besorgt, damit er mich im Notfall immer erreichen konnte. Zur Chemotherapie wurde er von einem Krankentransport abgeholt und auch wieder nach Hause gebracht wurde. Den Rest des Tages verbrachte er sitzend in seinem Sessel vor dem Fernseher. Ich hatte ihm Bücher besorgt, denn er hatte früher furchtbar gern und viel gelesen, aber die interessierten ihn auf einmal nicht mehr. Er konnte auch nicht mehr spazieren gehen, denn in seinem Körper, besonders in seinen Beinen, hatten sich Wasseransammlungen gebildet, so dass seine Füße Elefantenfüßen ähnelten.

So verbrachte er fast zwei Monate. Im September wurde alles schlimmer, die Schmerzmittel wirkten so gut wie gar nicht mehr. Auch eine Erhöhung der Dosis brachte nicht den gewünschten Erfolg. Mittlerweile war es auch nicht mehr nur das Essen, was er verweigerte, sondern auch das Trinken. Er wurde zusehends schwächer und wirkte manchmal so abwesend, als ob er gar nicht mehr da wäre. Er jammerte nie, obwohl er mittlerweile wieder unter sehr starken Schmerzen litt. Ich fühlte mich so hilflos, ich wusste nicht, was ich für ihn tun konnte, außer da sein und seine Hand zu halten.

Am 17.09.2001, eine Woche nach meinem Geburtstag, kam ich wie üblich nach der Abend in seine Wohnung. Mein Mann hatte mich von der Arbeit abgeholt und zusammen waren wir sofort zu Papa gefahren. Das war gegen 16.30 Uhr. Nachdem Papa nicht wie sonst auf unser Klingeln die Tür öffnete, wusste ich, das etwas nicht stimmte. Glücklicherweise hatte ich einen Zweitschlüssel. Wir öffneten die Tür und das erste, was wir sahen, war Papa zwischen Wohnzimmer und Bad auf dem Boden liegend. Im ersten Moment war ich wie versteinert, ich dachte, er wäre tot. Er lag einfach nur da, die Augen geschlossen und völlig reglos. Ich rannte sofort zu ihm und da öffnete er die Augen. Wir halfen ihm hoch und legten ihn auf das Sofa. Langsam und unter großer Anstrengung erzählte er uns was passiert war. Er war am Morgen aufgestanden, weil er zur Toilette musste. Dabei war ihm schwindelig geworden und er war gestürzt. Er hatte es aus eigener Kraft nicht geschafft aufzustehen. Das Telefon lag auf dem Wohnzimmerschrank und war somit für ihn unerreichbar gewesen. Also hatte er den ganzen Tag dort auf dem Boden gelegen und gewartet, dass ich kam. Ich wage mir nicht vorzustellen, wie er sich gefühlt haben muss. Wäre mir etwas zugestoßen oder dazwischengekommen, wie lange hätte er wohl dort liegen müssen? Mir war klar, dass wir ihn nun nicht mehr allein lassen konnten. Ich rief als erstes den Krankenwagen. Die Sanitäter kamen und versuchten eine Kanüle bei Papa zu legen. Das war aufgrund der großen Austrocknung nicht möglich. Sei Blut war so eingedickt, dass es ihnen nicht gelang einen Zugang zu legen. Also nahmen sie ihn mit. Ich packte ein paar Sachen zusammen und anschließend fuhren wir hinterher ins Krankenhaus.

Als wir dort ankamen, waren die Schwestern gerade dabei, Papa eines dieser Krankenhausnachthemden anzuziehen. Ich sah ihn zum erstem Mal seit Monaten mit freiem Oberkörper und der Schreck fuhr mir in alle Glieder. Er war nur noch Haut und Knochen. Man konnte jeden einzelnen Knochen mit bloßem Auge erkennen. Mir war nie so deutlich bewusst, wie viel an Gewicht er verloren hatte. Einzig der Bauch war rund und prall und erinnerte in seiner Form an eine sehr fortgeschrittenen Schwangerschaft. Er bekam über eine Infusion Kochsalzlösung zugeführt, was dazu geführt hatte, dass sich der Bauch mit Flüssigkeit gefüllt hatte. Es ging ihm etwas besser und er sagte, wir bräuchten uns keine sorgen zu machen, das würde schon wieder werden.

Am nächsten Tag rief ich auf der Arbeit an und bat um Urlaub. Mein Chef war ein echter Menschenfreund und teilte mir mit, dass ich in der Probezeit sei und deshalb keinen Urlaub bekäme. Also hatte ich keine Wahl und holte mir einen Krankenschein.

Danach fuhren wir wieder ins Krankenhaus. Dort bekam ich es nun mit der angst zu tun. Papas Bauch war noch mehr aufgebläht und er hing immer noch am Tropf. Durch den Druck im Bauch bekam er keine Luft mehr und bekam über eine Nasensonde Sauerstoff zugeführt. Er saß im Bett, der Blick völlig wirr und voller angst. Ein paar mal versuchte er aufzuspringen, als wollte er weglaufen. Ich konnte den Anblick kaum ertragen: Mein starker Papa, der ein Leben lang immer für mich dagewesen war, so hilflos und voll nackter Angst! Irgendwann nickte er ein und wir gingen auf den Flur. Die diensthabende Schwester sprach mich an. Sie war sehr nett und mitfühlend. Sie sagte mir, dass es nicht nötig sei, dass Papa diese Schmerzen ertragen müsse. Wenn er sein Einverständnis geben würde, könnte er solch eine starke Dosis Morphium bekommen, dass er das Bewußtsein verlieren und keine Schmerzen mehr spüren müsse. Er hatte dieses Einverständnis jedoch nicht geben wollen, weil er dann nicht wisse, ob ich bei ihm sei.

Ich wusste, dass ich nun eine sehr schwere Entscheidung würde treffen müssen. Wenn ihn davon überzeugen könnte, das Morphium zu nehem, wäre dies ein abschied, denn er würde nicht wieder so klar zu Verstand kommen, dass ich mit ihm reden könnte. Ich konnte aber die Leiden nicht mehr ertragen, die er durchleben mußte. Deshalb redete ich mit ihm, sobald er wieder wach war. Ich erzählte ihm , dass er dann keine Aschmerzen mehr haben würde. Ich versprach ihm auch, bei ihm zu sein und seine Hand zu halten. Er blickte mich voller Vertrauen an und stimmte zu. Nachdem wir dies der Schwester mitgeteilt hatten, kam der Stationsarzt mit der Injektion. Papa sah mich ein letztes Mal bewusst an und lächelte. “Nun ist es bald vorbei, Nicole” - das waren die letzten Worte, die er zu mir sagte. Ich konnte wegen der Tränen in meiner Kehle nur nicken. Bald nach der Injektion schlossen sich seine Augen und seine Gesicht verlor den angespannten Ausdruck.

Ich verließ die Klinik ein letztes Mal, um seine behandelnde Ärztin aufzusuchen und ihr zu berichten was vorgefallen war. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und teilte mir mit, dass ich mich darauf einstellen müsse, dass Papa Weihnachten nicht mehr bei uns sein würde.

Zurück im Krankenhaus informierte ich nun meine Schwester, die schon vor Jahren aus mir unbekannten Gründen den Kontakt zu Papa abgebrochen hatte. Sie kam noch am selben Abend ins Krankenhaus. Wir verbrachten die ganze Nacht dort bei ihm. Er hatte in seinem Dämmerschlaf doch noch einige wache Momente, er erkannte meine Schwester und fragte nur: ”Warum solange nicht?” sie konnte darauf nicht antworten und er hätte die Antwort auch nicht mehr gehört. In dieser Nacht hoffte ich nicht länger, dass Papa wieder gesund werden würde, sondern ich betete zum ersten Mal in meinem Leben darum, dass dieses Leid für ihn ein Ende haben sollte. Niemand hat diesen unfairen Kampf verdient und einen geliebten Menschen so leiden zu sehen ist schlimmer als ihn zu verlieren.

Mein Vater starb am 20.09.2001, er wurde nur 64 Jahre alt. Mit ihm habe nicht nur meinen Vater verloren, sondern auch meinen besten Freund. Ich bin ihm dankbar für all die Jahre, in denen er bedingungslos hinter mir stand! Ich werde ihn nie vergessen!
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Mein lieber Papa 16.01.1937-20.09.2001
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