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  #16  
Alt 03.12.2015, 01:45
Lunacat_91 Lunacat_91 ist offline
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Stockholm´s cold but I´ve been told I was born to endure this kind of weather

Gedanken von vor ein paar Wochen...

Leider bin ich nicht in Stockholm, sondern in München. Aber kalt ist es. Der erste Schnee fällt vom Himmel, schmilzt aber sobald er eine Oberfläche berührt. Christoph sieht diese ersten Flocken nicht fallen. Es mag einem Außenstehenden wie eine banale Erfahrung vorkommen, aber für mich ist es wieder eine Erfahrung mehr in meinem Leben ohne Christoph als lebenden Menschen darin. Der erste Schnee nach seinem Tod. Wie die Flocken da so langsam vor sich hin schweben, unsicher, ob sie wirklich da hinunter fallen wollen, wo sie gleich schmelzen werden, erinnern sie mich an mein früheres Leben. Mein altes Leben, das mit der Diagnose plötzlich weg war. So wie die Schneeflocken, wenn sie auf dem Boden aufkommen. Heute sitze ich hier im Wohnheim. Wo war ich vor genau einem Jahr? Wohl in der bisher dunkelsten Zeit meines Lebens. Die Diagnose lag schon über einen Monat zurück, die Therapie lief bereits. Es war noch die erste Chemo vor den folgenden Umstellungen. Das FLOT-Schema. All die Begriffe, an die wir uns damals so schnell gewöhnen mussten, um überhaupt zu verstehen, was für eine Behandlung Christoph da über sich ergehen lassen muss, verschwimmen immer mehr. Ich erinnere mich an einige Dinge nur vage. Wenn ich an die Zeit vor einem Jahr zurück denke, erinnere ich mich an lange Nächte ohne Schlaf, dafür nicht an die Vormittage, denn da holte ich den Schlaf meist nach. Ich erinnere mich an die schrecklichsten Dienstage meines Lebens, an denen ich nach München pendeln musste, um zwei Seminare zu besuchen. Danach ging es gleich wieder zurück nach Hause. Ich erinnere mich an Schachpartien mit meinem Papa, solange Christoph noch ein wenig Zeit für sich alleine haben wollte. Diese Schachpartien waren wohl wie eine Art Therapie für mich. Es wurde kaum geredet, wir spielten einfach Schach. Wer gewann, war egal. Ich musste einfach etwas anderes in meinen Kopf kriegen, wenigstens für ein paar Minuten. Immer und immer wieder wollte ich spielen. Hauptsache, da war etwas, worauf ich mich konzentrieren musste. Und doch war ich in ständiger Alarmbereitschaft, mein Handy stets neben mir.
Wenn ich doch noch ein einziges Mal mit ihm reden könnte. Einmal, fünf Minuten. Warum gibt mir niemand diese fünf Minuten? Ich werde nicht mehr mit ihm sprechen. Nie wieder. In dieser einen Nacht im März taten sich gleichzeitig hunderte "nie wieder"s und hunderte "erste Male" auf. Wie eben dieser erste Schnee. Der erste Schnee nach Christophs Tod. Jetzt, wo die Bäume keine grünen Kleider mehr tragen und die Tage sich schon am Nachmittag in Dunkelheit hüllen, werde ich mit jedem Blick aus dem Fenster an die Zeit vor einem Jahr erinnert. Erstaunlich, was allein dieses Wetter alles in mir auslöst. Wird von nun an jeder Wintereinbruch so sein? Ein einziges riesiges Post-It, das mich daran erinnert: Heute vor einem, zwei, drei, vier, fünf... Jahren?
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Now I can´t believe that it´s been five years
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Je mehr du gedacht hast, je mehr du getan hast, desto länger hast du gelebt.
(Immanuel Kant)


Christoph (1992-2015) - Ich vermisse dich
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  #17  
Alt 03.12.2015, 12:37
Franziska72 Franziska72 ist offline
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Liebe Lunacat,

Deine Gedanken kann ich soo gut nachempfinden. Nur bin ich Dir in etwa ein Jahr voraus. Mein Mann starb letztes Jahr im Juni nach 6monatiger Krankheit. Alles was Du schreibst könnte von mir kommen.
Ich kann Dich dennoch etwas beruhigen. Wie alle schreiben, die Trauer verändert sich mit der Zeit. Es gibt viele erst Mal ohne ihn... das erste Mal Einkaufen danach war auch ein spezielles Erlebnis. Man greift automatisch nach den Sachen, die ER gerne gegessen hat, ich bin dann nur noch geflüchtet. Mittlerweile habe ich dort meine eigene Routine wieder gefunden. Mir bestehen noch einige erste Male ohne ihn bevor, es wird auch Dinge geben, die ich definitiv ohne ihn nie wieder machen möchte.
Mir geht es jetzt schon viel besser als letztes Jahr um diese Zeit. Die Käseglocke (so habe ich den Nebel getauft, in dem man die ersten Monate lebt) über meinen Kopf ist nahezu verschwunden, ich habe oft wieder den Kopf für Alltägliches. Meine Trauer ist nicht mehr 24 h am Tag präsent. Natürlich denke ich noch jeden Tag an meinen Mann und ich vermisse ihn schrecklich und auch ich denke trotz der 18 Monate, er müsste bald wieder kommen. Aber ich weine nicht mehr so viel, meine Tränen sind oft nicht mehr so verzweifelt wie letztes Jahr. Es geht weiter. Ich habe auch schon viele Momente, in denen ich glücklich bin und ich meine so richtig glücklich ohne aber... (nach dem Motto: ist ja ganz schön, aber trotzdem ist alles schrecklich).
Oft tut es mir sogar richtig gut, wenn ich mich wieder einmal richtig ausgeheult habe, wenn der Damm gebrochen ist und wieder ein kleiner See von Tränen vergossen wurde. Durch die Trauer muss man leider durch und ein kleines bisschen nimmt man dauerhaft mit. Es wird nie wieder so wie vorher. Doch es lohnt sich weiter zu machen.
Ich drück Dich,
Franzi
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Und wir dachten wir hätten noch soviel Zeit!
Jeder Tag mit Dir war ein Geschenk.
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Mein Schatz: 1972-01.06.2014
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  #18  
Alt 12.12.2016, 00:26
Lunacat_91 Lunacat_91 ist offline
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The saddest thing that I'd ever seen
Were smokers outside the hospital doors


Hier bin ich wieder. Nachdem ich monatelang hier nicht rein geschaut habe. Irgendwann wurde es zu viel und ich konnte all diese Geschichten und Gedanken nicht länger ertragen. Man kann es Egoismus nennen. Oder Selbstschutz. Oder Auszeit. Oder Weitermachen. Weitermachen mit dem Leben einer, zu dem Zeitpunkt, Vierundzwanzigjährigen.
Heute habe ich allerdings auf zeitjung.de den Blog eines Krebskranken in meinem Alter gelesen. Ich erkenne vieles, was wir vor zwei Jahren (unfassbar...) erlebt haben, in seinen Texten wieder.
Mein Leben mittlerweile... Es ging mir seit März, also ziemlich genau ein Jahr nach Christophs Tod, eigentlich besser. Ich war mit Freundinnen in den USA unterwegs. Unter anderem in San Francisco. Ich erinnere mich noch daran, wie Christoph - es muss im Februar 2015 gewesen sein - gesagt hat, dass er diese Stadt gerne noch sehen würde. Jetzt war ich dort. Für uns beide.
Mittlerweile lebe ich nicht mehr in München, sondern studiere woanders. Ich habe mich hier sehr gut eingelebt und auf Anhieb super nette Leute kennengelernt.
Einen Dämpfer gab es allerdings... Ich habe im Juni eine eigene Diagnose bekommen. Ich habe selbt chronisch krank. Das liegt bei uns in der Familie und ist - ich weiß es nicht - vielleicht durch diese extreme psychische Belastung in der Zeit davor nun eben ausgebrochen. Es ist ironisch. Wenn man denkt, es kann nicht schlimmer kommen... Aber mein erster Gedanke war einfach nur: Gott sei Dank nichts Schlimmeres, kein Krebs.
Ich weiß gar nicht so recht, an wen ich all das gerade adressiere. Es ist ein Schreibdrang.
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Christoph (1992-2015) - Ich vermisse dich

Geändert von Lunacat_91 (15.01.2017 um 13:53 Uhr)
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  #19  
Alt 15.01.2017, 13:40
Lunacat_91 Lunacat_91 ist offline
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Standard AW: Mitte 20 und anders als alle anderen

Eines Tages wirst du für mich Dinge tun, die du hasst. Das bedeutet es, eine Familie zu sein.

Wahre Worte sind das. In Christophs schlechtesten Zeiten war es seine Familie - und ich, aber ich denke nach fast 5 Jahren Beziehung und in so einer Extremsituation konnte man mich quasi zur Familie zählen - die Dinge für ihn tat, die sie hasste. Und die auch er hasste. So sehr, dass es dafür keine Wort gibt. Mehr als abgrundtief. Dazu gehörten Dinge wie die täglichen Kalorienrationen herzurichten und an den Port anzuschließen. Essen ging ja nicht mehr. Und wenn, dann in viel zu geringen Mengen. Man konnte mit ansehen, wie die Chemo ihn auszehrte. Woche für Woche war da weniger. Und wer ihn in gesundem Zustand kannte, hat es eigentlich kaum für möglich gehalten, dass er mal noch dünner sein könnte. Zumindest nicht noch dünner ohne... ja, ohne krank zu sein.

Im März sind es zwei Jahre. Zwei Jahre seitdem ich den Tod meines Freundes miterlebt habe. Das Leid vor diesem Zeitpunkt und das Leid danach sind nicht miteinander vergleichbar. Irgendwann, nach einem monatelangen, aussichtslosen Kampf, der zu einem nicht mehr lebenswerten Leben geführt hat, sehnt man sich ein schnelles Ende fast schon herbei. Harte Worte. Aber wer einmal einen intelligenten, geliebten Menschen in dem Zustand gesehen hat, den eine Unterfunktion sämtlicher Organe bewirkt, der würde sich auch ein möglichst schnelles Ende für den anderen wünschen. Christoph hatte mir, als er noch klar denken konnte, das Versprechen abgenommen, ihn in die Schweiz zu bringen, sobald so ein Zustand eintritt. Er wollte so nicht leben. In seinen letzten Tagen musste ich mich der Frage stellen, ab wann es genug sei. Wann ich ihm nun diesen "Wunsch" erfüllen sollte. Noch ein Tag? Noch zwei? Nächste Woche? Mir wurde diese Entscheidung abgenommen: An dem Tag als er ins Krankenhaus gebracht wurde, starb er. Er wollte dort nicht sein. Und vielleicht wusste er genau, dass diese Entscheidung zu groß für mich war.

Jetzt sitze ich hier. Fast zwei Jahre später. Ich dachte, ich würde diese Panik, selbt krank zu sein, nicht mehr bekommen. In den Wochen und Monaten nach seinem Tod lebte ich in fast ständiger Angst, beobachtete meinen Körper ganz genau, tastete mich selbst ab, nahm Zink ein. Nur um dann im Juni 2016 eine eigene Diagnose zu bekommen... Und mein erster Gedanke war nur: Zum Glück kein Krebs. Mit der Krankheit lebe ich nun und ich dachte: Ok, das ist nun mein Los. Jetzt weiß ich es also. Mit 23 den Freund verlieren, mit 24 selber eine Diagnose kriegen. Aha. Gut. Ich konnte das soweit akzeptieren. Und ich dachte mir, dass ich nun keine Angst mehr haben müsste. Ich kannte ja nun mein "Schicksal". Ich weiß jetzt, welche Krankheit ich habe und brauche mir um weitere keine Sorgen machen. Das ging seit Juni gut. Bis jetzt. Jetzt kommt sie wieder... Die Angst vor Krebs. Seit Tagen spüre ich ein Ziehen im Bauch, taste ab, mache mich verrückt. Wie in den Wochen und Monaten nach Christophs Tod. Ich dachte, ich hätte diese Panik überwunden, die Angst vor dem Krankwerden. Also morgen zum Arzt... Da ich umgezogen bin und hier noch keinen Hausarzt habe, hoffe ich, dass ich auch ohne Termin irgendwo dran komme und auf Verständnis treffe mit meiner Angst. Nichts wäre schlimmer als ohne Ultraschall wieder heim geschickt zu werden. Wie Christoph damals. 7 Monate vor seinem Tod.

Es holt mich alles immer wieder ein. Die Vorstellung, irgendwann einmal wieder ganz losgelöst von diesen schrecklichen Monaten leben zu können, ist eine Illusion.
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Christoph (1992-2015) - Ich vermisse dich

Geändert von Lunacat_91 (15.01.2017 um 13:54 Uhr)
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  #20  
Alt 16.01.2017, 23:58
Kleinzeller_Speiseröhre Kleinzeller_Speiseröhre ist offline
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Registriert seit: 31.07.2015
Beiträge: 8
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Hi Lunacat,
mir geht es genau wie dir. Jedes Ziehen und Drücken löst bei mir mittelschwere Panik aus dass es ein Tumor sein könnte. Seit dem Tod meiner Mutter bin ich gefühlt Stammgast beim Arzt. Ist schwer sich davon loszumachen. Krebs schleicht sich so gemein an und oft ist es dann einfach schon zu spät. Aber trotzdem nervt und stresst es mich, immer in Lauerstellung zu liegen...Das kann es doch irgendwie auch nicht sein.
War dir wohl keine große Hilfe...Aber zumindest geht es nicht nur dir so.
Liebe Grüße von jamila
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