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Alt 12.11.2014, 02:21
Costatergumcancer Costatergumcancer ist offline
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Standard Beene inne Luft jeschmissen

Seit längerem lese ich viel in diesem Forum und es hat mir geholfen, die Geschehnisse der letzten Monate in einen Rahmen zu setzen. Die persönliche Tragödie mindert es zwar kaum, aber es nimmt dem Ganzen den Spuk und entmystifiziert es. Das empfand ich als große Erleichterung, denn dadurch konnte ich mich auf das Wesentliche konzentrieren.

Ende Oktober 2014 hat mein Vater die Beene inne Luft jeschmissen. Er hat diese Redewendung während eines Krankenhausaufenthalts aufgeschnappt und weil sie ihn so amüsierte, nutzte er sie gerne.
Nachdem er an Luftnot und Antriebslosigkeit litt, wurden ihm schließlich 3l per Punktion aus der Lunge gesaugt. Im März/April 2014 bekam er dann von den Ärzten mitgeteilt, dass er ein malignes Pleuramesotheliom habe (genaue Angaben habe ich gerade nicht hier bei mir). Er war Ende 70 und hatte bis dato ein sportliches Leben geführt. Der einzige vorige Krankenhausaufenthalt in seinem Leben war vor Jahrzehnten wegen seines Rückens gewesen, ansonsten war er immer gesund.

Die vielen Geschichten zeigen mir, dass die Symptome meines Vaters die gleichen wie bei allen Mesotheliomleidenden waren - starkes Abnehmen, Appetitlosigkeit, Schmerzen. Doch vielleicht war seine Reaktion darauf nicht ganz so üblich, auch wenn es natürlich alles immer schon in verschiedenen Ausprägungen gab. Er reagierte zwar nicht gelassen und bezeichnete die Krankheit wiederholt als "Quark" und "Käse", aber er sagte auch, dass es ihn mit Ende 70 nicht so sehr wundert, wenn ihm die Ärzte sagen, dass er bald stürbe. (Das hängt natürlich auch ganz einfach mit seinem hohen Lebensalter zusammen.) Er setzte meine Geschwister, Mutter und mich relativ zügig nach anfänglich aus falscher Rücksicht resultierender zaghafter Zurückhaltung über seinen Zustand in Kenntnis und stellte quasi zur Debatte, wie jetzt weiterzuverfahren sei. Die Ärzte waren der Meinung, er solle eine Chemotherapie machen und ihm solle "das Fell über die Ohren" gezogen werden, wie es eine Ärztin formulierte. Ein Freund meines Vaters ist Arzt und dieser war bei manchen Arztgesprächen dabei. Darüber hinaus setzte er sich natürlich mit allem auseinander und war ein qualifizierter Ratgeber. Auch Krankenschwestern gab es im Bekanntenkreis, eine arbeitete in der Geriatrie. Alle medizinisch qualifizierten Leute im Freundes- und Bekanntenkreis rieten ihm auf Nachfrage von der Operation ab. Meine Familie und ich signalisierten meinem Vater, dass wir hinter seiner Entscheidung stünden, wie immer sie auch aussähe.

Es war schnell abzusehen, dass er keine Operation und keine Therapie machen wollte. Wiederholt machte er sich lustig über seiner Meinung nach leere Phrasen wie "Erhaltung der Lebensqualität" oder "Ruhepause" ("Durch die Chemotherapie hätten Sie nochmal eine Ruhepause.", sagte ein Arzt zu ihm - die kommt noch früh genug, sagte er zu mir). In langen Gesprächen kamen mein Vater und ich auf den gemeinsamen Nenner, dass es in seinem Alter und seinem körperlichen Zustand (das Untergewicht war schon relativ stark) aussichtslos sei, noch große Gegenaktivitäten zu ergreifen. Das Risiko sei viel zu groß, dass die Operation letal verlaufe - und was habe man von drei Monaten mehr Leben, wenn die vielgerühmte "Lebensqualität" saumäßig wird? Natürlich sprach er auch viel mit meinen Geschwistern und meiner Mutter und wir wiederum alle untereinander. Wir alle dachten uns von Anfang an, dass eine Chemotherapie ihm in seinem schlechten Zustand nicht anzuraten sei. Doch vor allem anderen stand seine Autonomie - er sollte entscheiden, wie er handelt. Dadurch, dass er uns so stark und wesentlich in seinen Entscheidungsprozess einbezog, hatte er seine "Schuldigkeit" (in dicken Anführungszeichen!) schon getan. Kennt ihr das, wenn jemand freundlich fragt, ob er mal kurz etwas laut sein darf? Dann geht es einem vielleicht eigentlich immer noch gegen den Strich, aber dadurch dass er fragte, nimmt man es gutmütig hin und freut sich, dass es so nette Menschen noch gibt. Aber es war auch wirklich nicht so, dass wir der Meinung waren, er solle die Chemotherapie machen - wir alle bekräftigten ihn darin, dass er den unabwendbar tödlich verlaufenden Rippenfellkrebs, den er nun mal hatte, mithilfe erleichternder Palliativmedizin hinter sich bringen solle.

Anfangs ging es ihm noch ganz gut, er fuhr Fahrrad und ging zu meinem Bruder, von dem er nicht weit entfernt wohnte. Mehrfach war ich mit ihm im Gericht bei Prozessen, die wir als Zuschauer besuchten. Sogar sportlich betätigten wir uns noch - ich lief im Wald und er fuhr mit dem Fahrrad hinter mir her. (Es fragt sich übrigens jeder, inklusive ihm selbst noch vor kurzem, wie er das hinbekommen hat.) Wir kamen familiär zusammen, aßen, lachten und erfreuten uns am Kind meines Bruders, das fast exakt vier Monate vor meines Vaters Ableben geboren wurde. Er hat es noch voll mitbekommen, da ging es ihm sogar noch so gut, dass er auf das Neugeborene aufpasste, es hielt, fütterte und sich (wie auf Fotos und Videos dokumentiert) sichtlich daran erfreute. Sein Lachen hat er bis zu allerletzt nicht verloren, das ist für mich ein Faktor, der das Ganze etwas leichter macht.

Die Kurve ging dann wie bei fast allen rapide nach unten. Er klagte über starke Schmerzen an der Schulter und konnte überhaupt nicht mehr schlafen. Irgendwann gab er dann seine Medikamentensturheit auf und nahm nachts Schmerz- sowie Schlafmittel. Das war erst mal wieder ein guter Zustand. Eine Neuigkeit erschütterte mich wenig später zutiefst - er konnte nicht mehr lesen. Die Konzentration fehlte ihm und das Buch war ihm zu schwer. Auf die Seite legen konnte er sich nicht, da ihm das Schmerzen bereitete. Dabei hat er sein Leben lang gelesen, immer lag etwas an seinem Nachttisch und Notizen in fast jedem Buch zeigen, dass er sich damit auseinandersetzte. Auch seine berufliche Betätigung brachte mit sich, dass er sich viel mit Schriftstücken auseinandersetzen musste. Er sagte, dass er auf seinen geliebten Waldlauf verzichten könne. Es sei aber schon eine starke Beeinträchtigung für ihn, wenn er nicht mal lesen bzw. klar denken könne.

Zum Ende des Septembers hin wurde es mit seiner Atemnot und seinem unregelmäßigen Herzschlag dann so schlimm, dass er ins Krankenhaus ging. Dort wurde er in einem Viererzimmer mit sehr schwierigen Zimmerkumpanen untergebracht. Die Stationsärztin war auch noch eine absolute Katastrophe. Mein Bruder und ich wollten - nachdem sie sich nicht vorgestellt hatte - von ihr ein paar Fragen beantwortet haben: Wie läuft das mit den Medikamenten? Wie mit der Sauerstoffversorgung? Bekommt er ein Krankenbett? Und so weiter und so fort. Solche Fragen eben. Stattdessen sagte sie uns wiederholt: "Jetzt müssen Sie sich als Söhne überlegen, ob Sie Ihren Vater nach Hause holen wollen." Mein Bruder, eine ruhige Natur, wies sie nach drei oder vier Malen unmissverständlich darauf hin, dass wir diese Überlegung fortbringen wollten, indem sie uns unsere Fragen beantwortet. Brachte aber auch nichts. Als mein Bruder die Medikamente aufschrieb, die sie aufzählte, starrte die Ärztin ihn plötzlich an und hörte auf zu reden. Dann fragte sie, als wäre sie aus allen Wolken gefallen: "Wieso schreiben Sie das denn jetzt auf?" Mein Bruder antwortete, dass wir im Bilde darüber sein wollten, welche Medikamente unser Vater bekäme. Sie sagte daraufhin zögerlich, dass das doch alles im Arztbrief stünde und er das nicht aufschreiben müsse. Man wurde aber das Gefühl nicht los, dass sie uns nicht etwa Arbeit ersparen wollte, sondern es ihr unangenehm war, dass jemand ihre Worte niederschreibt.
Zwischenmenschliche Beziehungstipps hatte sie dann auch noch für uns - wir sollen uns unseren Vater schnappen, zum Restaurant an der Ecke gehen, gut essen und eine Rotweinflasche aufmachen (indirekt zitiert). Das Problem war nur, dass mein Vater nur noch kurze Strecken zurücklegen konnte, schon Morphium bekam, völlig appetitlos war und sich Alkohol doch vermutlich mit mindestens einem der unzähligen Medikamente, die er bekam, beißen würde. Diese Frau mischte sich auch in anderen Belangen in sehr unangenehmer Art und Weise in unser Familienleben ein - dazu hatte sie aber keine Berechtigung, sondern sie sollte meinen Vater lediglich behandeln und mehr nicht. Sie erklärte uns von mindestens einem Antrag fälschlicherweise, dass sie ihn in die Wege geleitet habe - Kommentar des Sozialdienstes: "Nein, also das ist eine Falschinformation." Man hätte denken können, dass sich da ein Hauptmann von Köpenick eingeschlichen hat.

In diesem Krankenhaus war er ... tja, ich muss sagen, dass mir zeitliche Einordnungen der letzten Wochen sehr schwer fallen. Er war wohl so zwei bis drei Wochen dort. Dann wurde er in ein anderes Krankenhaus auf die Palliativstation verlegt. Vor der Verlegung erzählte er mir noch, er rechne damit, im neuen Krankenhaus aufgepeppelt zu werden, um wieder Fahrradfahren zu können. Dies bewahrheitete sich natürlich nicht, sondern es war eine weitere Station auf dem Weg in die ewigen Jagdgründe.

Im neuen Krankenhaus ging es so rapide, dass man es kaum glauben konnte. Anfangs konnte er noch im Sessel sitzen und hat ein bisschen was gegessen. Schnell kam es dann dazu, dass er nur noch schwer aufstehen konnte. Mittlerweile war meine Mutter, die nicht hier wohnt, hergekommen und kümmerte sich um meinen Vater, obwohl sie nicht mehr zusammen sind. Es war ihr eine Herzensangelegenheit und sie war die letzten fünf Wochen seines Lebens jeden einzelnen Tag bei ihm. Er sagte ihr mehrfach, dass es ihn so überrasche und freue, dass sie gekommen sei, er könne es kaum glauben. Sie kümmerte sich jeden Tag um ihn, brachte ihm Sachen, die er von zuhause wollte und unterhielt sich mit ihm. Die meiste Zeit aber saß sie im Zimmer und war einfach da. Da, wenn er einschlief und auch noch wenn er wieder aufwachte - was ihn nicht nur einmal richtig glücklich machte, denn er hatte nicht zu glauben vermocht, dass noch jemand da sei. Meine Geschwister und ich waren viel da, auch wenn der eine nicht so oft da war, weil er nicht hier wohnt. Er kam aber auch mehrfach und war im Krankenhaus. Mein Gitarrespiel und der Sohn meines Bruders brachten ihn zum Strahlen. Es war im Rahmen des Gegebenen eigentlich auch wieder gar nicht so eine schlechte Zeit.

Dann hieß es, dass er vom Krankenhaus nicht ins Hospiz wolle, wo er sich schon Monate vorher auf die Warteliste hatte setzen lassen, sondern nach Hause. Diese Wahl fand meine Mutter nicht so gut, denn sie hätte mit ihm bei ihm gewohnt und Angst gehabt, dass er in ihrem Beisein ersticke oder andere Nöte gehabt hätte, die sie nicht zu stillen in der Lage gewesen wäre. Aber er blieb dabei. In letzter Sekunde bekamen wir von der Krankenkasse durch eine tatkräftige Ärztin ein Krankenbett zugesichert sowie ein Sauerstoffgerät und alle Medikamente. Alles war bereit, es waren nur noch ein oder zwei Tage. Doch plötzlich entschied er sich doch fürs Hospiz und es ist nur dem Einsatz seines Heimpflegearztes zu verdanken, dass er noch einen Platz bekam - denn eigentlich war sein Hospizwartelistenplatz durch seine Entscheidung nach Hause zu gehen verwirkt.

Es folgte der Transfer ins Hospiz und als ich dort ankam, merkte ich sofort, dass es kein Krankenhaus ist. Es war eine viel heimeligere Atmosphäre, eine Gemeinschaftsküche gab es dort und einen großen Flügel, auf dem ich meine sehr anfänglichen Klavierkünste ausprobieren konnte. Für wenige Tage ging es ihm noch einigermaßen gut, er war bei Bewusstsein und (eher seichte) Unterhaltungen waren möglich. Doch wo es vorher noch Wochen waren, die Verschlechterungen hervorbrachten, waren es jetzt Tage. Von Tag zu Tag nahm sein Zustand ab. Mein kräftiger, gesunder, federführender Vater war nun ein krankheitstypisch heruntergemagerter Mann, der sich zuletzt in einem Zustand der völligen Konfusion befand. Er fragte, warum wir da sein und als wir ihm versicherten, dass wir ihn nur besuchten um bei ihm zu sein, antwortete er: "Mehr nicht?" Er wusste nicht mehr, wo er war und warum er dort war. Als mein Bruder Musik anmachte, fragte mein Vater: "Hat er auch einen (Musik-)Wunsch?" und guckte dabei zur Tür, an der sich niemand befand. Als wir ihn fragten, wen er meint, reagierte er nicht. Um ihn zu beruhigen, sagten wir ihm, dass "er" natürlich auch einen Wunsch frei habe. Daraufhin meinte er zu uns, wir sollten es "ihm" auch sagen. Das waren Momente, die einen Horror in mir und meiner Familie auslösten. Aber wir gaben uns dem nicht hin, sondern rückten eher noch etwas näher zu unserem Vater und Mann, damit er unsere Gesichter sieht und unsere Stimmen hört. Manchmal habe ich ein bisschen Gitarre gespielt oder wir kniffelten - das waren alles Sachen, durch die er ruhiger wurde.

In der letzten Nacht bevor meine Familie und ich im Hospiz blieben, weil wir merkten, dass es zuende ging, passierte etwas Außergewöhnliches. Die Nachtschwester setzte meine Mutter darüber in Kenntnis, dass mein Vater in der Nacht bei einem Kontrollblick der Schwester einmal im Sessel saß und einmal auf dem Boden kniete. Dabei berichtete er von schlimmen Träumen, die ihn nicht schlafen ließen. Er sagte angeblich sowas wie: "Es ist ja Mord und Totschlag hier." Im Laufe der Nacht legte er dann mit seinem Rollator die Strecke von seinem Zimmer bis zum Schwesternzimmer zurück, was eine unfassbare Kraftleistung gewesen sein muss. Auch später redete er im Zustand der Konfusion von einem "falschen Spiel", das dort liefe. Nicht gegen ihn, betonte er, aber eben generell ein falsches Spiel. Dies sagte er nicht bitter oder ängstlich, sondern er dachte einfach, dass irgendwas mit der Schwester falsch ist und er sagte uns, wir sollten ihm erzählen, was es damit auf sich hat. Ganz neugierig, wie ein Kind, das versucht Zusammenhänge zu erfassen. Naja, wir sagten ihm eben sehr ruhig und mit warmer, freundlicher Stimme, dass nichts laufe und versuchten ihn ein bisschen abzulenken. Wir führen seine Konspirationswitterungen darauf zurück, dass wir uns unbedachterweise etwas rabiat über eine Schwester dort geäußert hatten. Für uns war das einfach nur ein normales Gespräch, aber er hat das in seinem Delirium wahrscheinlich zu mehr gemacht. Es belief sich dann irgendwann darauf, dass er gar nicht mehr wach wurde und nur noch im Bett lag. Da er mit offenem Mund atmete, gab uns der Hospizpfleger ein Wassersprühdöschen und Wattestäbchen. Die Utensilien sollten wir benutzen, um seinen Mundraum zu befeuchten.

Er starb um kurz vor neun Uhr morgens. Mein Bruder und ich hatten oben im Angehörigenzimmer geschlafen, mein anderer Bruder und meine Mutter im Zimmer meines Vaters auf Sesseln. Um kurz vor acht Uhr klopfte es bei mir und meinem Bruder, es waren meine Mutter und mein anderer Bruder. Sie sagten, dass er gerade nochmal bei Bewusstsein sei, ob wir das vielleicht erleben wollten. Ich nahm keinerlei Standardaktionen vor, die man sonst morgendlich begeht, sondern zog mir direkt die Klamotten an und ging runter. Als ich ins Zimmer kam, war er schon wieder bewusstlos, atmete aber noch. Nun gut, dachte ich, viel anders als in den letzten Tagen ist das ja auch nicht. Also schlug ich vor, dass ich zum Bäcker gehe und belegte Brötchen besorge. Ich ging heraus und genoss die kühle Morgenluft, das Licht und die Tatsache, mal aus dem Hospiz herauszukommen. Extra langsam ging ich zum Bäcker, da ich diesen Minispaziergang möglichst strecken wollte. Als ich vom Bäcker zurückkam, ging ich erst mal ins Zimmer, wo alles noch normal schien und dann heraus, um Kaffee aus der Küche zu holen. Auf dem Rückweg ins Zimmer sprach mich ein Pfleger an und fragte, wie es meinem Vater ginge. Ich sagte, dass er sehr schwer atmen könne. Der Pfleger sagte, er komme mal gleich mit rein. Wir gingen zusammen ins Zimmer und in diesem Moment drehte sich mein Vater auf die rechte Seite. Er sah zwar nicht direkt gequält aus, aber schon so, als ob er Luftprobleme hat. Hier streckte er nochmal die Hand nach meiner Mutter aus. Der Pfleger sagte: "Das dauert nur noch ein paar Minuten. Bleiben Sie jetzt bei ihm." Meine Brüder, meine Mutter und ich waren gerade im Raum, wir setzten uns alle aufs Bett und hielten ihn, während wir direkt an seiner Seite waren, als er die letzten Atemzüge tat. Irgendwann machte er Atembewegungen, aber es kam keine Luft mehr, man hörte kein Geräusch des Lufteinziehens oder -ausstoßens mehr. Es war ein völlig zeitloser Moment und ich kann es sehr schwer einschätzen, glaube aber, dass es wenige Minuten waren, in denen er ewig gar nicht und dann noch einmal ganz kurz geatmet hat. Schließlich war es vorbei. Er hatte die Beene inne Luft jeschmissen.
Man kann nicht sagen, dass Trauer das einzige Gefühl war, das sich meiner bemächtigte. Selbstverständlich war auch in seinem Sinne Erleichterung dabei.

Für 36 Stunden wurde er auf eigenen Wunsch im Hospiz aufgebahrt und wir waren auch diese Zeit lang noch bei ihm. Dann wurde er vom Bestatter abgeholt. Dies mitanzusehen war mir ein Bedürfnis, auch wenn es ganz schön brutal ist, denn der Kopf baumelt natürlich herunter und auch die Gesichts- und Körpermuskulatur hat keine Spannung mehr. Einige Tage später fand die Beerdigung statt, die von genau der richtigen Quantität und Qualität an Menschen besucht wurde. Es war eine gute Zeremonie. Ich kann wieder sagen: Im Rahmen des Gegebenen war es gut.

Danach gab es ein Familienessen und anschließend hob ich mit meinen Brüdern (einer war allerdings schon anderweitig verabredet) den einen oder anderen Whiskey, den unser Vater so mochte. Wir erzählten uns Anekdoten und gedachten der Person, die jetzt zwar nicht mehr ist, aber vielen in guter und intensiver Erinnerung bleiben wird. Es wird mir auch jetzt klar, welch Glücksfall es ist, dass das Filmen meine Leidenschaft war und in abgeschwächter Form noch ist.

Als vor 62 Jahren die Großtante meines Vaters starb, die seine einzig verbliebene Verwandte und hochsympathische Bezugsperson gewesen war, malte er mit Farbe in großen Lettern an die Wand: "ALLES SCHEISSE" Dass das damals bei ihm so war, ist nachvollziehbar, denn er musste aufgrund der Minderjährigkeit ins Heim und hatte niemanden mehr. Doch für mich ist es anders. Ich habe eine Familie und kann sagen, dass die letzten Monate wahrscheinlich so gut wie möglich verlaufen sind. Mein Vater und ich haben noch viel unternommen, uns stundenlang unterhalten, er hat mir Erkältungsbad und Zitronen gekauft, er war bei mir zuhause und ich bei ihm, wir kamen alle zusammen und erfreuten uns aneinander. Die Bewältigung aller bürokratischen und finanziellen Herausforderungen, die sich nach dem Tod eines Angehörigen ergeben, ist zwar schwierig, jetzt aber auch fast geschafft.

Nachdem ich monatelang mit meinem Vater eine schöne Zeit verbrachte habe und in den letzten zwei Monaten für ihn stark bleiben wollte, kann ich mich jetzt dem hingeben, was das Wesentliche ist - die Trauer darüber, dass so eine wichtige und vertraute Bezugsperson für Fragen unterschiedlichster Couleur weggefallen ist. Aber bei allem Grund zur Trauer fällt es mir schwer, nur traurig zu sein. Ich verspüre auch Freude, wenn ich an ihn denke, Erleichterung, und Glück, dass ich sein Sohn bin.

Geändert von Costatergumcancer (12.11.2014 um 03:07 Uhr)
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  #2  
Alt 12.11.2014, 11:43
laolam laolam ist offline
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Standard AW: Beene inne Luft jeschmissen

Mein herzliches Beileid!
Bei aller Traurigkeit hast du alles so schön und plastisch beschrieben, dass ich deinen Vater sehen könnte. Ein toller Mann, mutig, witzig, charmant, seinen Sinn für Humor hast du vererbt.Das wird dir auch Halt geben in der kommenden Zeit.
Mein Mann ist auch im August an MPM gestorben.Er war aber erst 51.....
Ich wünsche Dir und deiner Familie viel Kraft und viele schöne Erinnerungen an diesen wundebaren Mann
Mit traurigen Grüßen Laolam
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  #3  
Alt 12.11.2014, 14:23
Costatergumcancer Costatergumcancer ist offline
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Registriert seit: 12.11.2014
Beiträge: 2
Standard AW: Beene inne Luft jeschmissen

Danke, dass du den Beitrag gelesen und ein paar Worte dazu verloren hast. Die Attribute, die du ihm nach dem Lesen zuschreibst, empfinde ich als treffend. Es ist schön, dass das durchs Lesen herüberkam.

Der Vater meiner Schwägerin ist auch Anfang 50 und leidet im weit fortgeschrittenen Stadium an Krebs. Es ist ein Jammer, wenn Menschen in so jungen Jahren versterben. Natürlich ist die Ausgangslage für den Betroffenen und die Angehörigen eine völlig andere, wenn er schon ein Alter erreicht hat, in dem man ihn als "alt genug" fürs Sterben betrachtet. Mit Anfang 50 ist man viel zu jung dafür. Es tut mir leid, dass es deinen Mann getroffen hat, laolam.

Geändert von gitti2002 (12.11.2014 um 19:06 Uhr) Grund: Vollzitat entfernt
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  #4  
Alt 12.11.2014, 22:06
laolam laolam ist offline
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Ort: Sachsen-Anhalt
Beiträge: 22
Standard AW: Beene inne Luft jeschmissen

Hallo,danke fuer deine Zeilen.Schön, dass du umgezogen bist, da in diesem Forum schreiben noch Menschen, die ihren Kampf noch nicht aufgegeben haben und noch die Hoffnung haben. Bei uns ist es schon vorbei....Wir haben unsere Lieben verloren...
Man gibt die eigenen Eltern nie, in keinem Alter freiwillig und gerne her.Man möchte, dass sie lange bei uns bleiben und schon gar nicht, dass sie leiden müssen.
So eine Diagnose wie MPM ist ein furchtbarer Schicksalsschlag.
Mein Oleg ist gerade fünfzig geworden, als er diese Diagnose bekommen hat. Er hat bis zum letzten gehofft, war sehr mutig, hat mehrere Behandlungen über sich ergehen lassen. Er hat sich nicht beschwert und nicht geklagt, wir haben die Zeit auch genossen, er hatte nur 20 Monate Zeit zu leben...Er hat auch viel gelesen, das Letzte war die Geschichte der alten Römer. Welches Band das letzte war, weiss ich nicht....Und genau so, wie du schreibst, wo die Monate zu Tagen werden, war für mich das blanke Horror zu zusehen, wie dieser scharfsinnige und hochintelligente Mann geistig und körperlich verfällt, kann sich an nichts mehr erinnern.
Man erkennt seine Lieben in der schweren Zeit anders. In deinem Beitrag habe ich das auch mitbekommen. Ich habe meinen Mann sehr bewundert.Er hatte eine Stärke gehabt, die Ruhe, den Humor. Wir konnten stundenlang miteinander reden, Musik hören, alte russische Komoedien gucken (wir kommen aus der eh.UdSSR )
Ich hätte diese Stärke nicht.
Er konnte die Tatsache, dass er unheilbar krank ist einfach wegstecken und einfach leben.
Die letzten Tage hat er auf der Palliativstation verbracht. Dort hat er versucht wieder laufen zu lernen. Aber nach wenigen Tagen ist er gestorben.Ich war bei ihm und habe ihm seine Lieblingslieder gesungen, das hat ihn in seinen letzten Stunden beruhigt und er konnte loslassen
Nach 26 Jahren Ehe habe bin ich alleine geblieben Ich denke an ihn immer mit viel Liebe und auch viel Respekt und Stolz.
Er fehlt jeden Tag.Und jeden Tag verstehe ich immer mehr und aufs Neue, was ich an ihm verloren habe.
Mit traurigen Grüßen laolam
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