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  #46  
Alt 06.11.2008, 15:26
Fahrradklingel Fahrradklingel ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Hallo ihr Lieben

ich werde mal berichten wie es nun aussieht. Mein Vater war eine Woche mit Fieber im Krankenhaus, vermutlich ist einfach irgendeine Infektion gewesen, die er sich eingefangen hat. Er hat das ganz gut überstanden, und ich war auch froh, dass ich Ende September meinen Forschungsaufenthalt in Südafrika antreten konnte, wo ich gerade immer noch bin.
Mittlerweile kann er wieder ganz gut sprechen, wir können auch einigermaßen telefonieren. Er wiegt leider immer noch sehr wenig, nur 61 kg bei 1,80m, ich denke mal, dass da die Chemo zehrt. Seit dem Krankenhausaufenthalt hat er schon 3x wieder die Avastin/Irinotecan-Chemo bekommen und sie jedes Mal gut vertragen. Problematisch ist manchmal, dass die Venen angegriffen sind, und die Nadel irgendwann zu ist, und die CHemo dann viele Stunden dauert. Nun ja. Ich bin ja sehr sehr froh und dankbar, dass wir nun schon fast 2 Jahre mit dem Glioblastom durchgehalten haben, das hätte ich, trotz Zweckoptimismus, nicht zu hoffen gewagt, v.a. nicht angesichts der Rückschläge Anfang diesen Jahres. Mein Vater ist meist in guter, gelassener Stimmung, werkelt im Garten, macht kleine Spaziergänge. Wortfindungsstörungen hat er weiterhin, auch die Aufmerksamkeitsstörung ist geblieben. Sorge machen uns Sehschwierigkeiten; Lesen strengt ihn sehr an, er hat irgendwie Schwierigkeiten, Konturen zu erkennen oder beim Gehen räumlich zu sehen, kann aber schlecht beschreiben, wie sich das für ihn genau darstellt.
Am 12. komme ich wieder zurück nach Deutschland, und nächste Woche hat mein Vater auch das nächste MRT. Natürlich sind wir aufgeregt und ängstlich, was diesmal herauskommen wird. Es wäre schlimm, würde sich zeigen, dass auch das Avastin/Irinotecan und die ketogene Diät nichts mehr nützen... ich kann das aber nichtglauben, denn die letzten 5 Monate verliefen bis auf diese Infektion ja recht stabil.

Euch allen viele liebe Grüße

Eure Franziska
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  #47  
Alt 16.11.2008, 22:16
Fahrradklingel Fahrradklingel ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Yippieyeah

Das letzte MRT ist gut ausgefallen! Evtl. gibt es an einer kleinen Stelle mehr Kontrastmittelanreicherung. Aber das ist bei Avastin/Irinotecan offenbar sehr schwierig auszuwerten. Bereits wenn mal eine Aufnahme an einem anderen Kernspintomographen durchführt, kann dies das Ergebnis ein wenig verändern.
Das heißt, bei uns gehts weiter wie bisher; mit ketogener Diät und alle 2 Wochen Avastin/Irinotecan, und Ende Januar kommt das nächste MRT.

Ich bin sooo froh! Den ganzen Freitag hatte ich so ein Sch...Gefühl, meine Intuition hat mir böse Streiche gespielt
Nun hab ich nach den 2 Monaten Südafrika endlich meine Eltern wieder gesehen, und ein wunderschönes Wochenende mit ihnen verbracht. Mein Vater ist ganz flink auf mich zugesprintet als er mich auf dem Bahnsteig gesehen hat, sodass meine Mutter so schnell gar nicht nachkam Körperlich geht es ihm ganz gut, er hat denselben Schraubstock-Händedruck wie immer Mit dem Sprechen allerdings ist es grad schwierig. Es hat ihn traurig gemacht, wenn ich von meinen Reisen erzählt habe und er die ganzen Fragen, die ihm auf der Zunge lagen nicht wirklich stellen konnte. Er ist soo tapfer, wie er diese schweren Einschränkungen meist mit Fassung erträgt.
Ich merke, dass ich meine Eltern so lieb habe, und ihnen so nahe bin wie noch nie...

Euch allen liebe Grüße und weiterhin gute Wünsche für euch und eure Angehörigen

Franziska
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  #48  
Alt 17.11.2008, 10:39
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Thistle Thistle ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Liebe Franziska,


ich freue mich soooo für Euch!!!!

Renate
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  #49  
Alt 17.11.2008, 12:42
Benita Benita ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Hallo Franziska,

das sind ja mal gute Nachrichten.
Ich freu mich für euch.

Liebe Grüße, Benita
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  #50  
Alt 23.05.2009, 10:21
Fahrradklingel Fahrradklingel ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Weiterhin sieht es recht stabil aus.
Manchmal schwieriger: Neulich hat er die Chemo nicht gut vertragen, sehr sehr viel geschlafen und hatte Schwierigkeiten die linke Körperseite zu koordinieren. Chemo strengt ihn auch mental sehr an - der Ortswechsel, die Nacht anderswo, die vielen Menschen, die Autofahrt auch wenns nur 30 km sind. Alles Dinge die uns Angehörigen vielleicht einfach erscheinen, für ihn aber schwer sind.
Manchmal leichter: Wenn er sich um Garten und Pflanzen kümmern kann, wenn wir uns sehn und in Millisekunden der Humor und so einige unserer ganz persönlichen running gags losrennen, wenn er mit meiner Mutter spazieren geht.
Avastin / Irinotecan und die ketogene Ernährung macht er nun seit fast einem Jahr. Und mit dem GBM lebt er nun seit 2.5 Jahren - mal so, mal so.

Mal gucken wie's so weiter läuft. Hoffe alles bleibt noch eine Weile so oder wird gar ein bißchen besser. Mich ziehts grad runter, will mich oft nur einigeln und gar keine Menschen sehn, aber da muss ich halt selbst irgendwie mit umgehn und nicht jammern. Hab ja tolle Leute um mich, von denen ich meistens viel Verständnis krieg. Trotzdem braucht es nur wenig, um mich auf 180 zu bringen Manchmal hätt ich gern mein Leben vom November 2006 zurück...

Franziska
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  #51  
Alt 09.10.2009, 21:37
Fahrradklingel Fahrradklingel ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Ihr Lieben,

schon lange habe ich nicht mehr geschrieben. Und nun kann ich nur Trauriges mitteilen. Mein Vater ist am 10. August gestorben. Friedlich, im Schlaf, zu Hause, im Beisein von meiner Mutter und mir ist er aus dieser Welt gegangen.
Ich möchte euch berichten, wie sein Weg zu Ende gegangen ist.

Ende Mai als er noch ein wenig sprechen konnte, gab es zwei Gespräche, in denen wir voneinander Abschied nahmen. Er lag im Bett. Ich erzählte ein wenig. Von meiner Arbeit, von mir, wir kamen auch mal wieder auf Geologie zu sprechen. All die Steine die er gesammelt hat, mehr als fünfzig Jahre. Er sagte "Ich geh jetzt nach der anderen Seite hin. Und des ischt richtig so." Und wenig später "Ich merk, dass ich jetzt allmählich von euch zwoi weggetragen werd." Er sagte das ruhig, gelassen, so als er ob sich das lang, lang überlegt hatte, in den Stunden in denen er dösend auf der Couch gelegen hatte, in diesen Wochen im Mai. Ich musste unwillkürlich weinen. So direkt hätte ich das nie ansprechen können. Er erschrak, fragte "Hab ich was Falsches gsagt?" Ich musste zwischen den Tränen lachen. Nein - das war so klar und richtig. Besser hätte es niemand ausdrücken können.

Mich nahmen diese Wochen sehr mit. Er konnte mit viel Mühe noch aufstehen, ein paar Schritte gehen, bekam auch noch alle 2 Wochen die Chemotherapie. Aber es war zumindest für mich (und wohl auch für ihn - so verstehe ich seine Worte) klar, dass der nun Weg unabänderlich war. Er schlief immer mehr, wurde schnell müde, auch die Augen ermüdeten leicht, er brauchte nun einen Rollstuhl und die Sprache ging immer weiter fort. Einzelne Worte fand er noch.

Anfang Juli war noch einmal Kontrolltermin in Frankfurt. Als ich ihm in den Kernspintomographen hineinhelfe, denke ich, dass das wohl das letzte Mal sein wird. Wir warten und warten. Der Bericht der Radiologin und die Aufnahmen zeigen bereits, dass der Tumor deutlich gewachsen ist, das sieht auch die Laiin, die ich nun mal bin, aber eine eindeutige Empfehlung war noch nicht möglich. Ein paar Tage später war ich zum Gespräch mit dem Arzt noch mal da, und es war klar: Es ist nun alles ausgeschöpft was medizinisch und ethisch sinnvoll ist. Es macht mich sehr traurig. Aber irgendwie bin ich nun wieder ruhiger, weil die Unklarheiten, all das heimliche Beobachten, Suchen nach Anzeichen, Tendenzen, Misstrauen, ob das nun der Tumor ist, oder die Tagesform vorbei ist... ich weiß: nun geht es um den langen Abschied, ums Gehenlassen, ums Weitergehen, und wir leben und sterben nun mit diesem Wissen und können das tun, was uns eben möglich ist, damit dieser Weg weiterhin eine irgendwie gute Richtung nimmt.

Wenige Wochen später bekam mein Vater eine fieberhafte Bronchitis, Fieber bis zu 40°, dehydriert, apathisch und nicht mehr wirklich bei Bewusstein. Der Hausarzt war erst sehr skeptisch, wie auch, aber dann entschlossen wir uns, ihn ins Krankenhaus zu bringen, und es war im Nachhinein die absolut richtige Entscheidung. Er erholte sich dort sehr schnell von der Infektion, und wirkte in diesen Tagen oft heiter, gelöst. Als er wieder nach Hause kam, haben wir ihm noch mal seinen Lieblingskuchen gebacken. Schwarzwälder Kirschtorte, die er wegen der ketogenen Diät ein Jahr lang nicht gegessen hatte. Und einen Äbblwoi-Apfelkuchen.

Am Nachmittag des 9. August ruft mich meine Mutter an. Mein Vater hat einen leichten, aber wohl generalisierten epileptischen Anfall erlitten. Schläft nun. Der Notarzt kommt und entscheidet sich gegen eine Krankenhauseinweisung. Ich schmeiße ich schnell ein paar Klamotten in meine Fahrradtasche. Schwarze sind auch dabei. Spätabends komme ich bei ihm an. Er schläft tief, fast komatös. Ruhige lange Atemzüge, die morgens immer schwächer werden. Bis zum Schluss halte ich seine Hand, merke wie sein Puls langsamer und leichter wird, und ich schließlich nur noch meinen eigenen spüren kann. Dann gehe ich- es ist noch ganz dunkel, hinaus in den Garten, wo ich eine der Rosenblüten am Hauseingang und eine Sommerflieder-Dolde abschneide, und zu ihm aufs Kissen lege. Ein langer langer Morgen bricht an. Ich sitze da und sitze und sitze, auf der Bettkante, halb an seiner Seite, bis mir abwechselnd das eine oder das andere Bein einschlafen.

Langsam werden seine Hände kühler. Ich kann es kaum fassen. Mal erscheint es mir unwirklich, mal real was passiert, mal denke ich, ich täusche mich und gleich regt er sich oder sagt gar etwas, mal wird es mir wieder mit schmerzlicher Gewissheit bewusst. Irgendwann dämmert es, ein Blitz zuckt schwach über den Himmel, Donner von weit her, dann die ersten Regentropfen, niedergehende Blitze. Ich stütze die Arme aufs Fensterbrett und weine. Die Zeit vergeht ganz langsam. Ich bin froh darüber, über diesen verhangenen langsam herannahenden Morgen. Wir haben alle Zeit, um Abschied zu nehmen. Irgendwann ziehe ich mich um, den schwarzen Kordrock, das lange schwarze Shirt, das orange Armband aus Südafrika. Ich habe gerade meinen Vater verloren. Täglich verliere ich ihn aufs Neue. Man darf das sehen. Ich koche einen Espresso für meine Mutter und mich, wir setzen uns aufs Bett neben meinem Vater. Es ist einer der leckersten Espressi glaube ich, schwer und bitter schmeckt er.

Wir entfernen all die Lagerungskissen, ziehen ihm die Windel aus und einen frischen Schlafanzug an. Unsere Bewegungen und Handlungen ergänzen sich, ein Griff, eine Haltung fügt sich zur anderen. Mein Vater sieht schön aus, wie er da liegt, mit einer Sommerfliederdolde und einer Rose. Ich muss immer an HIlde Domin denken, da hieß es in einem Gedicht „und nur eine Rose als Stütze“. Mehr braucht er nicht mehr. Er fühlt sich noch ganz warm an, unter der Bettdecke, während die Hände langsam kühler werden. Die Waden sind so dünn geworden, die Haut spannt über den Knochen. Das waren mal die Volleyballerwaden, die in Bergstiefeln über Stock und Stein wanderten, über Pässe, zu Gletschern und Gipfeln. Immer mit einer alten Leica über der Schulter, mit Blumen, die Du pflücktest und zu Hause bestimmtest, und einem Rucksack voll von Steinen, Geologe, der Du warst. Bestimmt 500 kg Gestein hast Du für Deine geologische Sammlung aus den Bergen ins Tal geschleppt. Und dann gejammert: „Mein armes Auto“. Und wenn ich damals mit 6 oder 7 sagte „ich bin müde, ich brauche ein Bonbon“ dann fand sich in den Abgründen Deiner Hosentasche immer ein Campino, Schweizer Kräuterzucker oder ein NimmZwei. Jetzt müssen andere weiterwandern.

Alles, was es in den nächsten Tagen zu tun galt, haben wir mit Ruhe und liebevollem Gedenken getan. Bis zum nächsten Tag konnte mein Vater noch bei uns im Haus bleiben und einige Verwandte und Freunde kamen zum Abschiednehmen vorbei. Zumeist ist das schön inmitten des Traurigseins. Eine Schulfreundin hat ganz viele lebenspraktische Ideen, schreibt mit mir die Trauerkarten, schickt morgens und abends eine „Wie geht’s“-SMS, hat eine wunderbare Idee, wie man die 500 kg Gestein zu einer Skulptur arrangieren könnte. Ich bin sehr dankbar für all das.
Es gibt auch andere Momente, wo Verwandte und scheinbare Freunde unglaublich nerven. Wenn sie jetzt schon vom "Loslassen" sprechen. Wenn ich höre "es war ja immerhin vorhersehbar". Verdammt, mein Vater ist gerade eben gestorben, und ihr erzählt mir, einem ziemlich analytisch denkenden Menschen, was von Vorhersehbarkeit? Empathiefreies Pack! Aber wer trauert, der lernt, sehr sehr genau zu sehen. Und wer trauert, hat auch keine Angst vor radikalen Entscheidungen, und kehrt dann eben im sogenannten Freundeskreis mit eisenen Besen. Trauern ist ein Stahlbad. Man geht als ein anderer Mensch daraus hervor. So ist das wohl.

Derweil stiehlt sich ein kleines, verschmitztes Lächeln, als wolle er gleich einen seiner Sparwitze machen, auf das Gesicht meines Vaters. Die Dinge, die es für die Beerdigung zu organisieren galt – sei es die Sargauswahl, die Auswahl von Kleidung die er im Sarg tragen sollte, Blumen und die Traueranzeige, habe ich als Handlungen erlebt, die einem beim Trauern sehr helfen können, weil sie alle die Möglichkeit bieten, nochmal im (mutmaßlichen – denn er sprach nie darüber) Sinne des Verstorbenen zu handeln.

Manchmal merke ich, wie gut es tut, sich anzustrengen. Viele Trauerkarten in den Rucksack zu packen und von Haus zu Haus zu radeln. Der Bestattungsunternehmer hat uns auch gefragt, ob wir den Sarg selbst tragen möchten. Ich würde das sehr gerne selbst machen, stelle mir das Gewicht des Sarges vor, wie sich die Griffe in die Handbeugen graben auf dem Weg über den Friedhof, ein leichtes Ziehen im Rücken und im Becken wegen der einseitigen Belastung. Dann das Herbsenken mit Seilen, ein Ruckeln, langsam lose geben, langsam die Schwerkraft wirken lassen, die Schwerkraft zulassen, senken senken senken, bis der Boden des Grabes erreicht ist.. Das Gewicht spüren, wie es einen nach vorne zieht, wie man sich etwas nach hinten lehnt. Ich wünschte wir hätten genug liebe Menschen, mit denen man den Sarg selbst tragen könnte. Soviel Gewicht wäre es nicht gewesen, mein Vater wog nur noch knapp 60kg. Aber zuviele der Verwandten und Freunde haben Rückenprobleme.
Nur meine Freundin, ehemals Punk, nun begnadete Bassistin einer Metalband hätte das Zeug dazu.

In der Nacht träume ich von der Beerdigung: Wir müssen die Kaffeegesellschaft hier in der Wohnung stattfinden lassen, Tisch an Tisch zieht sich durch Flur, Arbeitszimmer, Wohnzimmer, Esszimmer. Überall drängeln sich Menschen, und ich trete allen auf die Füße. Wir leihen in der gesamten Nachbarschaft Stühle aus. Und ich berechne, wieviel Kaffee wir brauchen und komme auf 400h Liter. Da uns nur eine kleine Kaffeemaschine und ein kleiner Wasserkocher zur Verfügung stehen, müssen wir schon 3 Tage vorher beginnen, Kaffee zu kochen, der dann in diversen bunten Thermoskannen aufbewahrt wird…
Schließlich ist es soweit. Es ist ein sonniger Tag. Man trifft einige Menschen auf dem Parkplatz. Man sieht Kränze und Schleifen, riecht den Duft von Blumen, dem schon das Welke beigemischt ist. Ich bin gelassen und irgendwie ist da auch etwas Frohes in mir. Wir haben allerlei kleine liebevolle Rituale des Abschiednehmens gefunden. Bei der Trauerfeier nennt der Pfarrer zwei Sätze, die mein Vater in seinen letzten Wochen, als sein Sprachzentrum noch nicht zerstört war, sagen konnte: „Ich merk, dass ich jetzat von euch zwoi weggetraga werd.“ Und „Ich geh jetzt nach der anderen Seite hin. Und des ischd richtig so.“ Zwei Sätze, die vielleicht nicht nur mir Trost geben, sondern auch anderen, all denen die ihn in seinen letzten Monaten nicht mehr gesehen haben, weil er sich von der Welt zurückziehen wollte.

Die Glocken läuten. Dahinter liegt ein dunkles flirrendes Rauschen. Sarg wird hinausgerollt, der Pfarrer folgt, ich stehe auf, meine Mutter an meiner Seite, dann all die anderen. Es ist ein langer Zug, der sich auf dem Weg um ein paar Kurven schlängelt. Warmer Wind kommt auf. Vor meinen Füßen huscht eine große Eidechse über den Plattenweg. Der Chef meines Vaters hält eine Grabrede. Irgendwann muss ich schmunzeln, als er ein paar witzige Details erwähnt.. Ich möchte mir noch auf die Lippen beißen aber ich weiß: ich darf auch fröhlich sein, darüber dass es solche Momente gab, fröhlich für all die Erinnerungen. Der Pfarrer spricht von „Asche zu Asche, Staub zu Staub“, Sätze, die jeder kennt, und die jetzt passend sind.

Dort wo meine Eltern leben, sind Kaffeegesellschaften nach der Beerdigung üblich. Ich finde das schön – man will ja auch wieder ins Leben zurück. Das Restaurant fragte mich, ob ich die „schwäbische Variante“ wünsche. Ich ahnte Sparsames – und tatsächlich wären das Brezeln (ohne Butter) und Hefezopf (ohne Butter), sowie Kaffee (mit Milch, immerhin). Nein, das ist mir zuviel Askese. Es gibt Heidelbeerkuchen und Apfelkuchen, mit Sahne, und Butterbrezeln gibt es auch. Der Pfarrer hat alle eingeladen, und ich freue mich, dass sich etwa 50 Leute eingefunden haben. Viele stehen um den Tisch, den wir gestaltet haben um einen Ort zum Erinnern zu geben. Ein Strauß mit Blumen aus dem Garten meines Vaters – Sommerflieder, Malven, Etagenerika, Glockenblumen. Er hatte darauf geachtet, dass immer etwas blüht, und so habe ich auch an diesem Morgen viele wunderschöne Blüten gefunden. Daneben steht ein Leporello mit Fotos aus diesen 72 Jahren.

Hier fotografiert er eine Blume mit seiner Leica, dort steht er, mit Anzug, Krawatte und Labormantel vor seinen Schülern und startet bestimmt gleich eine Knallgas-Explosion, dann ein Foto aus dem Jahr 1969, wo er mit seinen Kollegen Volleyball spielt. Ein Hochzeitsfoto. Eines beim Spazierengehen mit meiner kleinen Hand in seiner großen. Und einige Fotos aus den letzten Jahren, wo er schon krank war, operiert bereits, aber voller Hoffnung beim Wandern Rast macht und die Wanderkarte studiert. Und eine Spirale aus selbstgesammelten Steinen. Schwefel vom Ätna, Bergkristall und Granat aus den Alpen, Buntsandstein aus dem Schwarzwald und Kalkspatdrusen von der Schwäbischen Alb. Ich bin in diesen Stunden in viele viele Gespräche verwickelt und erlebe alles aus der Hubschrauberperspektive. Aber es gelingt alles gut, und ich glaube, jeder geht heim mit einer wertvollen Erinnerung im Herzen. Erst als mich der beste Freund meines Vaters in den Arm nimmt, weine ich, weine, merke wie sich so viel löst, und dass alles gut ist.

Ihr Lieben,

soweit mein Bericht aus meinem Blog. Ich lese hier weiterhin mit, wenn auch zur Zeit seltener, weil es mir manchmal zu nahe geht. Aber ich trauere auch mit Chris' Angehörigen, mit Nicky, und allen anderen, die in der letzten Zeit ihre Liebsten verloren haben. Sehr gerne möchte ich weiterhin die eine oder andere Idee oder Erfahrung weitergeben. Dieses Forum lebt vom Geben und Nehmen und ich hätte vor drei Jahren nie gedacht, wie wertvoll so eine virtuelle Gemeinschaft sein kann. Ich bin euch allen sehr sehr dankbar für Worte, Gedanken, Ideen, eine virtuelle Umarmung und fürs Aneinanderdenken von fern.
Und ja: man wächst an all diesen Erfahrungen. Man lernt und geht weiter und weiß nicht wie und von irgendwo kommen die Kräfte einfach her.

Neulich stolperte in einem Buch meines derzeitigen Lieblingsschriftsteller Haruki Murakami über folgende Worte, die mich sehr berührten und die ich mit euch teilen möchte:

"So ist das Leben. Wie schwer und tödlich unser Verlust auch sein mag, wie wichtig auch immer das, dessen wir beraubt wurden: Wir leben einfach weiter. Selbst wenn nur noch die äußerste Schicht unserer Haut die Gleiche geblieben ist und wir zu völlig anderen Menschen geworden sind, strecken wir die Hände nach der uns zugemessenen Zeit aus, holen sie ein und bringen sie schließlich hinter uns. Sooft ich darüber nachdenke, wie wir unermüdlich und meist ohne besonderes Geschick unsere alltäglichen Verrichtungen wiederholen, überkommt mich das Gefühl einer entsetzlichen Leere."

Haruki Murakami (1999): Sputnik Sweetheart

Euch allen weiterhin alles Liebe, viel Kraft und viel Trost

Eure Franziska

Geändert von gitti2002 (17.02.2015 um 00:23 Uhr) Grund: Beiträge zusammengeführt
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  #52  
Alt 09.10.2009, 21:59
attila7 attila7 ist offline
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Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Hallo Franziska,

erstmal herzliches Beileid von mir !

Nun sitze ich hier und heule, du hast das so bewegend geschrieben, dass alles bei mir wieder hochgekommen ist, wie es bei meiner Mum war, es ist nun schon 10 Jahre her bei uns... ihr habt Zeit gehabt, euch zu verabschieden, und habt diese Zeit wirklich genutzt, mir wurde das verwehrt. Meine Mutter starb nachts in einem Pflegeheim, und der Bestatter (er kannte meine Mutter schon seit Kindesbeinen) meinte, ich solle sie so in Erinnerung behalten, wie sie war. Ich mache mir heute noch Vorwürfe, dass ich nicht bei ihr war, als sie gehen musste.

Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute.

Liebe Grüße Christine
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  #53  
Alt 09.10.2009, 23:15
Auntie Auntie ist offline
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Beiträge: 149
Standard AW: Das langsame Abschiednehmen - Glioblastom IV

Liebe Franziska,

es tut mir sehr leid, dass dieser Schei..tumor wieder einmal gewonnen hat.

Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute für Deine Zukunft.

Fühl Dich mal lieb

Traurige Grüße
Birgit
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